VI. Bizarres, dem Geschäft zuliebe
Doch schließlich meinte Casanova es gut mit ihnen, sogar noch aus seinem Grab heraus. Aus reiner Anerkennung, dass sie ihn so hoch ehrten, meinte Edi später.
Der machte nämlich eines Tages in einem Nobelcafé mehr zufällig die Bekanntschaft einer Dame mittleren Alters.
Einer Witwe, wie sie gleich betonte.
Sie sah adrett aus und benahm sich zwar auffällig, wie es ihr nach Name und Stand auch gebührte, jedoch nicht lustig.
Sie dürfen mich gerne „Wolke“ nennen, mein Freund. Wolke vom Wetterstein, so ist es ganz korrekt.
Das klang zwar außergewöhnlich und war zudem eine Lüge, zumindest aber hatte sie nicht „Georgie“ gewählt oder die Namen von deren Nachfolgerinnen. Ganz geheuer erschien es Edi trotzdem nicht.
In jener Zeit erlebte die Sehnsucht nach dem blauen Blut eine Renaissance, die alle Bevölkerungsschichten durchzog. Wahrscheinlich Relikte aus Kinderzeiten, in denen Märchen die Wünsche und Eitelkeiten von Königen, Prinzen und vor allem Prinzessinnen das Denken und Streben nach einer glamourösen Zukunft bestimmten.
Er beschloss gleichwohl, das adelige Spiel erneut mitzumachen. Da ihm momentan kein neuer Name einfiel, griff er zurück auf den Conte di Casanovella.
Wie interessant… Casanovella! Etwa ein Abkömmling des berühmten Casanova, Conte? Des Frauenverführers und größten Erotikers aller Zeiten? Das macht mich kribbelig…
Au Backe! durchfuhr es Edi, und er nahm alle Körperbeherrschung zusammen, um nicht entdeckt zu wirken.
Mitnichten, gnädigste Wolke! Allein das „Casa“ mag zu dieser Vermutung Anlass geben. Novella ist hingegen ein literarisches Attribut. Aber das brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Vor zwölf Generationen wurde dieser Name meinen Vorfahren von den Herzögen von Umbrien wegen besonderer Verdienste um die italienische Literatur verliehen.
Edi erschrak über sich selbst, wie locker ihm die Worte dieses Blitzeinfalls über die Lippen kamen.
Als er jedoch bemerkte, wie fasziniert die Wolke an diesen Lippen hing, nahm er sich wieder zusammen, fasste nach ihrer Hand und hauchte einen angedeuteten adeligen Kuss darüber hinweg.
Lassen wir es dabei, hübsches Wölkchen. Ich bin auf der Durchreise, komme soeben von einer Geschäftsreise aus den USA und dachte mir, in Frankfurt einge Tage auszuspannen. Ich konnte ja nicht ahnen, daß mir hier gleich ein Engel über den Weg laufen würde. Apropos Erotik…
Ja… Conte…?
Das klang nicht nur, sondern es war gehaucht. Dünner, weil dadurch angemessener und dennoch um ein Vielfaches gehaltvoller als sein Handkuss.
Erotik… hm, das ist schon ein Spezialgebiet meiner literarischen Vorfahren gewesen, das muss ich zugeben…
Wirklich, Conte? Ach, erotische Literatur! Wie liebe ich erotische Literatur! Das ist Phantasie, das ist himmlisch, um nicht zu sagen… göttlich! Sie haben da sicherlich einen ganz besonderen Nachlass zu verwalten, nicht?
Aufs Geratewohl ein Volltreffer! staunte Edi. Eine Fetischistin. Nicht eine der profanen Art, die sich an Geld, Geschmeide und Klamotten, an Königinnen und Prinzessinnen und an der Demütigung von Männern berauschte.
Der könnte geholfen werden, wenngleich er im Augenblick nicht wusste, wie.
Aber ja doch, Wölkchen. Darf ich Sie wirklich Wölkchen nennen? Sie erhoben keinen Einspruch soeben.
Wölkchen schmolz dahin.
Ich spüre es, ja, ich spüre es, Conte… Sie sprühen vor Erotik. Noch nie sprach jemand dieses „Wölkchen“ so aus wie Sie.
Aus tief verschleierten Augen betrachtete sie ihn wie ein neues Weltwunder, das gerade in ihr Herz gefahren war und dort ein gewaltiges Kammerbeben verursacht hatte.
Doch auch Edi wurde es augenblicklich heiß und kribbelig in den Lenden.
Aufpassen, Conte! riet ihm eine innere Stimme dringlich.
Dabei konnte er zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht ahnen, in welches Wespennest er mit seiner „erotischen Literatur“ gestochen hatte. Noch rein zufällig dazu.
Adi staunte Bauklötze, als Edi ihm Bericht erstattete. Eine Literaturistin? Davon habe er noch nie etwas gehört. Erotik ja, Filme und so, Pornographie, das schaue doch heutzutage jeder an. Sogar Frauen. Auch wenn sie sich anfangs zierten und vorschützten, das treibe ihnen jegliche Erotik aus. Kaum aber liefen die Dinger, würden sie scharf wie Cayennepfeffer, obwohl das ja wirklich die langweiligste Sache der Welt sei.
Das befehle ihnen der Fortpflanzungsauftrag der Natur und komme erst zum Erliegen, wenn dieser Auftrag erfüllt sei. Von Ausnahmen, die die Natur hin und wieder mache, mal abgesehen.
Literatur? Da sieht man doch nichts, Bruderherz. Ich kann mir das nicht vorstellen.
Das ist es ja gerade, Adi. Heute zählt nur noch, was sich der normale Mensch nicht vorstellen kann. Und wenn es Lesen ist. Mit entsprechenden Inhalten natürlich. Dann fängt nämlich die Phantasie an zu blühen. Sie wird wohl so eine Phantasie haben, die wir nicht kennen. Wir denken zu pragmatisch. Frauen aber, die den lieben lange Tag nichts zu tun haben, also vornehmlich reiche Witwen, entwickeln mit der Zeit eine ganz andere Art von Phantasie. Ja, so muss es wohl sein. Wir werden uns also auf eine völlig neue Situation einstellen müssen, Bruderherz. Die Lügengeschichten über Casanova sind angefragt. Und zwar heftig! Was könnten wir ihr anbieten?
Anbieten müssten sie ihr etwas. Ein erotisches Buch, das war klar.
Dieses Mal hatte Edi die zündende Idee.
Das ist eigentlich ganz logisch, Bruderherz. Ich führte mich ein als Sachwalter erotischer Literatur aus unserer umbrischen „Heimat“. Da kommt nur das „Decamerone“ infrage. D i e klassische erotische Geschichtensammlung Italiens.
Adis Pragmatismus ergänzte die Erkenntnis.
Ja, Edi, eine Prachtausgabe. Mit Goldschnitt. Und solchen runden Erhebungen am Buchrücken, du weißt schon. Da müssen wir sicher ein wenig tiefer in die Tasche greifen. Aber eine gute Investition wird auch gute Früchte tragen. Wir können sagen, das sei ein Originalnachdruck einer Ausgabe aus unserem Familienbesitz. Und es ihr dann schenken.
Noch am selbigen Tag war das Prachtexemplar bei einem Antiquar gefunden. Einen Tausender hatten sie dafür springen lassen müssen.
Riech mal, wie das riecht, Adi.
Ja, es riecht sehr historisch, Adi. Modrig will ich jetzt nicht gerade sagen. Und wenn schon. Vielleicht ist es ja auch dieser Geruch, der die erotische Phantasie beflügelt, wissen kann man das nicht. Anders ist wahrscheinlich die Nekrophilie nicht zu erklären.
Eine Weile sinnierten die beiden noch, was es alles zu geben schien bei den Damen außer Reichtum und Fetzentand, Königinnen und ihren Königen, Prinzessinnen und ihren Prinzen, Ärzten und ihren Krankenhäusern samt rasend eifersüchtigen Krankenschwestern; Patientinnen, die sich in diese Ärzte verliebten und sie im Krankenbett rumkriegten, so dass wiederum die Krankenschwestern, die sie dabei in flagranti erwischten, auf bitterste Rache sannen und ihnen die Versorgungsschläuche abklemmten oder in Operationssäle schoben, wo ihnen statt des Faceliftings eine Brust amputiert wurde und so weiter.
Aber Literatur?
Wirklich kaum vorstellbar – und doch wahr.
So firm waren die beiden auf diesem Gebiet auch nicht gerade.
Was machen wir uns so viele Gedanken, Bruderherz? Erotik wirkt doch von ganz alleine. Und lesen gelernt haben wir ja.
Von Schwester Misericordia, ja, Bruderherz. Die hatte freilich eine ganz andere Erotik.
Edi sollte dieses Mal die erste Schicht übernehmen. Er vertiefte sich deshalb in den alten, modrigen Schinken mit Goldschnitt und den Rundungen auf dem Buchrücken.
Hin und wieder lachte er hellauf, denn die Geschichten von alten, krummnasigen Advocaten, die nach Strich und Faden von ihren jungen, gekauften Ehefrauen betrogen wurden, begannen ihm Spaß zu bereiten.
Das Date im Nobelcafé wartete mit einer weiteren Überraschung auf. Wolke war nicht allein, sondern führte im Kreis einer von fünf weiteren Witwen im Trauerflor das bestimmende Wort.
Edi überlegte unter der Eingangstür, ob es ratsam sein, unter diesen Umständen wirklich zu bleiben, als sie ihn schon erspähte, vor Begeisterung in die Hände klatschte und aufsprang.
Seht, bedauernswerte Mitschwestern in der Trauerwoche, der Conte di Casanovella, meine neueste Entdeckung! Treten Sie doch herzu, lieber Conte, man erwartet Sie sehnsüchtigst.
Sie streckte das schwarz behandschuhte Händchen aus wie Damen es zu tun pflegen, leicht nach unten abgewinkelt, den Hauchkuss erwartend.
Jetzt gab es kein Zurück.
Edi nahm Haltung und die Aufforderung an. Sofort entstand unter den bedauernswerten schwarzen Witwen in der Trauerwoche Bewegung wie in einem Wespennest und geheimnisvolles und bewunderndes Getuschel, das jedoch auch Zischeltöne nicht verbergen konnte.
Ah, der Neid, Bruder der Witwenschwestern, resümierte der Graf und genoss die Stimmung einen Augenblick.
Zu sagen hatte er da noch nichts, denn Wolke erledigte das. Ihr Mundwerk ging wie ein Wasserfall.
… nicht nur Kenner der hohen italienischen Literatur… seine Vorfahren, die Grafen Piccolomini… unschätzbare Verdienste erworben… anerkannte Sammlungen in aller Welt… pausenlos unterwegs zwischen NewYork und Umbrien… Frankfurt als Provinznest könnte froh sein… reist jedoch inkognito… jaa, ein Glück, ein ausgesprochenes Glück…
Edi hatte genug Zeit, Lage und Damen zu peilen. Kaum eine der Schwestern hörte Wolke richtig zu, sondern sie hingen mit Schmachteblicken an dem braungebrannten, lässig über den weltlichen Dingen stehenden und sympathisch lächelnden Weltmenschen.
Die Runde war entgegen aller Schwärze der Trauer bunt gewürfelt, denn die Witwen sahen so gar nicht nach Witwen aus. Nicht nur, weil sie nicht trauerten trotz des Trauerflors, sondern weil sie nicht in sein hausbackenes Bild von trauernden Witwen passten.
Noch nicht.
Bei der Witwe Carla war das irgendwie anders gewesen. Doch – was gab es nicht alles. Das hatten sie ja am Vortag zur Genüge erörtert.
Und die Eine oder Andere passte bei näherer Betrachtung auch haarscharf zu den Damen aus dem Decamerone, die ihre Ehemänner so dreist beschissen.
Ob sich also einige nur als Witwen ausgaben?
Aber was hätten sie davon, sich als Witwen auszugeben, wenn sie keine wären? Mitleid erregen?
Quatsch, in so einer lockeren Gesellschaft!
Männer anlocken?
Noch mehr Quatsch, dann wären sie ja keine Witwen, sondern nur Eheflüchtlinge.
Grüne Witwen vielleicht?
Das käme hin. Eine nette Bekanntschaft machen, sich aushalten lassen, sich in Stundenhotels der neuen Bekanntschaft hingeben, zurückkehren ins Café und das Spiel, das nur einem Zweck diente, nämlich die Langeweile zu besiegen beziehungsweise vor den trauernden Mitschwestern aufzutrumpfen, von neuem beginnen.
Ja, das könnte hinkommen.
Wolke riss ihn aus seinen Gedanken.
So, lieber Conte, ich habe Sie nun genug vorgestellt. Bitte geben Sie uns nun die Ehre und erzählen Sie von Ihrer großen Familienleidenschaft, der Literatur.
O weh, was hatte er Zeit verschwendet und wissen müssen, dass er bald dran sein würde.
Es ist m i r eine große Ehre, nicht umgekehrt, hoch verehrte Damen meiner Freundin Wölkchen…
Geraune und Gezischel wurden lauter.
… meines hochgeschätzten Wölkchens….
Wolke schwebte.
… Ihnen ein wenig Kurzweil zu bereiten. Die Trauerzeit ist eine schreckliche Zeit, eine zermürbende, keiner weiß das besser zu beurteilen als ich, seit ich meine Contessa verlor, eine ungemein kunstverständige Frau, eine Gönnerin, ja, eine Mäzenin der großen Weltliteratur…
Er registrierte die Genugtuung in den Augen der Trauerwitwen, die signalisierte: Eine Konkurrentin, die Hauptkonkurrentin überhaupt, die Ehefrau, bereits ausgeschieden.
… so dass ich mich von Herzen freue, Ihnen meine bescheidene Aufwartung machen, vielmehr, Sie beehren zu dürfen mit meiner bescheidenen Gegenwart.
Wölkchen tat, als vibriere sie und reckte die Nüstern in die Luft. Das konnte sie nicht auf sich beruhen lassen und nahm dem Conte alle weitere Konversation ab.
Der hatte unterdessen Platz neben einer Witwe Mitte 40 genommen und sogleich deren Knie an dem seinen gespürt. Sie sei die beste Freundin Wölkchens, raunte sie ihm bei passender Gelegenheit mit heiserer Stimme ins Ohr, daß es ihm durch und durch ging. Er dürfe sie Sternchen nennen.
Ihm fiel das Wort Casanovas ein: Das Weib ist dem Weib eine Wölfin – mit Jungen.
Gut, die Jungen fielen in diesem Kreis weg.
Das dauerte drei Stunden.
Dann löste Wolke das Kränzchen der darüber nun tatsächlich trauernden Witwen auf. Sie hätte mit dem Conte noch einen wichtigen Buchhändler in der Stadt zu beehren.
Ein Taxi brachte sie zu einer Villa in einem Grünviertel am Stadtrand.
So, liebster Conte, hier bin ich zuhause. Das mit dem Buchhändler war natürlich geschwindelt, denn mir blieb nicht verborgen, wie gerne die Trauerschwestern an meiner Stelle gewesen wären. Treten Sie ein, seien Sie mein Gast, solange Sie wollen.
Es war eine herrschaftliche Villa. Das Haus wolle sie ihm später zeigen. Sie brauche jetzt Literatur, erotische Literatur.
Edi, das Decamerone in der Tasche seines Trenchcoats, war erleichtert.
Da sorgte ich vor, ohne zu wissen, daß ich Ihre Bekanntschaft machen würde, liebstes Wölkchen. Zufällig… nein, es muss Bestimmung gewesen sein, konnte ich in New York eine Prachtausgabe des größten Werkes der erotischen Weltliteratur erstehen. Ich mache es Ihnen zum Geschenk.
Sie sah ihn mit dem Blick einer tiefen, schwarzen Brunnenöffnung an und ergriff seine Hände.
Ich brauche keine Geschenke, Conte. Das können Sie doch sehen. Vorlesen sollen Sie mir. Lesen Sie mir bitte aus dem Buch vor. Kommen Sie.
Ehe er es sich versah, stand er mit ihr in einem traumhaften Schlafzimmer. Gobelins an den Wänden, ein faltenreicher, an den Ecken geraffter Rundumhimmel von Samtvorhang um das breite Bett, über diesem ein riesiger Spiegel mit Goldrahmen an der Stuckdecke. Vergoldete Barockmöbel überall. Er konnte diese Zauberwelt aus einem Märchenschloß seiner ehemaligen Waisenhauswelt nicht auf einmal packen.
Sie schob einen thronartigen Sessel an das Bett, bedeutete ihm wortlos sich zu setzen, strich ihm sanft über die Wange und legte sich seufzend in die Brokatkissen.
Bitte, lesen Sie… ich brenne darauf, sehen Sie das nicht?
Die Fetischistin! Das hätte er beinahe vergessen. Wie sie flehte. Kein Zweifel, sie war dem Fetisch Erotische Literatur verfallen.
Theatralisch schlug er das Buch auf, fixierte sie durchdringend und begann mit sonorer, schwingungsvoller Stimme.
Schon nach den ersten Zeilen fingen ihre Augen an zu glänzen, und Edi entging nicht, daß sie jetzt wirklich vibrierte.
Edi las mit sichtlichem Behagen, ja Vergnügen, weil er sich in den wenigen Stunden der vorbereitenden Beschäftigung mit dem Decamerone, diesem phantastischen Werk aus einer längst Geschichte gewordenen Hochkultur mit all ihren Lastern, Intrigen und Spitzbübereien des gemeinen ebenso wie des mittelständischen Volkes so genähert hatte wie kaum einem Buch zuvor in seinem Leben.
Nun gut, sehr viele Bücher hatte er bisher nicht lesen können. Solche schon überhaupt nicht
Umso mehr ergötzten ihn diese Erzählungen aus schnippischen Mündern, die sich so wesentlich nicht unterschieden von vielen Ereignissen der Gegenwart.
Die Erotik war dezent und immer mit einem Schuss Augenzwinkern garniert, gleichsam der Diener oder die Rahmenform höherer Themen. Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, Hochmut und Dummheit, Geiz und Gier, das waren die wahren Inhalte.
Hin und wieder blickte er auf und beobachtete Wölkchen, die entspannt da lag und ihm ergeben und selbstvergessen zu lauschen schien.
Merkwürdigerweise jedoch machte sie keinen Muckser der Beifälligkeit. Kein Lächeln, kein Schmunzeln, kein noch so winziges Zucken in ihrem Gesicht oder sonstwo. Sie räkelte sich nicht und streckte sich nicht.
Das sind sie, die echten Fetischisten, dachte Edi. Sie genießen und bauen den Fetisch langsam in ihrem Innneren auf, bis er sich von selbst aufbäumt und dann schlagartig und mit großer Heftigkeitkeit durchbricht.
Dann wären sie nicht mehr zu halten.
Darauf war er sehr gespannt, weil er das nur vom Hörensagen her kannte.
Nichts dergleichen geschah.
Lag es etwa an seinem Vortrag?
Er legte eine Portion Pathos zu, deklamierte, flüsterte, säuselte, donnerte, schmachtete, prustete, zischelte, verfiel ins Falsett, brummte in tiefsten Bässen und wunderte sich wieder einmal mehr, was er alles konnte.
Sie rührte sich nicht.
Er stand auf, schlüpfte in die Rollen, handelte, agierte mit dem Buch in der Hand, schritt, stolzierte, schlich, sprang wie ein Rumpelstilz, ließ die Wörter im Raum schweben, fliegen, tanzen, hetzte hinter ihnen her und schien ihnen vorauszueilen.
Keine Reaktion.
Hätte sie ihn wenigstens ausgelacht.
Dann wäre er sich seiner Clownerie bewusst geworden. Und seiner Tollpatschigkeit und wäre auf und davon um seiner Ehre willen.
Schlief sie? War sein eingeschlafen trotz aller seiner Bemühungen?
Langweilte er sie? War sie Besseres gewohnt? Vom Film, vom Theater?
Diese Art von Weibern war doch immer gelangweilt, es sei denn, sie inszenierten sich selbst.
Er verstummte und schloss das Buch.
Da öffnete sie die Augen und sah ihn mitfühlend, aber nicht abwertend an.
Ich hatte noch keinen Vorleser, der sich so viel Mühe gab wie Sie, Conte. Ehrlich. Sie mögen glauben, ich sei eingeschlafen gewesen. Aber nein, ich hörte Sie… und ich sah sie. Ich sah sie in vielen Gestalten und Situationen. Wie im Theater. Unter anderen Umständen wäre das wunderbar gewesen, glauben Sie mir. Sie sind ein sehr begabter Rezitator und auch Mime. Man könnte meinen, Sie seien auf allen bedeutenden Bühnen der Welt zuhause. Nur…
Wollte die ihn verarschen? Auf den bedeutenden Bühnen der Welt zuhause?
Er fühlte sich nicht einmal geschmeichelt, denn das ging über seine Hutschnur. So ein durchgeknalltes Weibsbild! Von hoher Literatur keine Ahnung, aber Literaturfetischistin sein wollen! Die köstlichsten Geschichten vorgelesen bekommen und kein Gefühl empfinden!
Nicht mit ihm.
Das war das Decamerone, gnädigste Wolke. Mit Verlaub, mit besserer Literatur kann ich nicht dienen. Mag sein, dass ich es überschätze, weil es aus meiner Heimat kommt. Oder weil ich diese kostbare Ausgabe überschätze. So werden Sie sich nach einem anderen Vorleser umsehen müssen.
Seine Gedanken waren bereits weit vorausgeeilt. Zu Sternchen nämlich. Die hatte ihm eindeutige Avancen gemacht.
Er wollte gleich bei ihr vorbeischauen.
So leben Sie wohl, Teuerste. Es tut mir leid, Ihnen keine Freude bereitet haben zu können. Arrivederla.
Wölkchen hing so schnell an seinem Hals, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Ihre Stimme war nicht mehr zu erkennen, als sie ihn anhauchte. Ja, jetzt flehte sie wirklich.
Sie bleiben. Sie b l e i b e n , hören Sie? Nie hörte ich eine so ausdrucksstarke Stimme, nie betonte jemand so wie Sie, nie spürte ich solches Verlangen nach einem Mann wie bei Ihnen. Ich werde Ihnen jetzt die Literatur holen, die i c h brauche. Das Decamerone war etwas für die Teenies der Renaissance, verstehen Sie? Der ersten Versuche, die Prüderie der Pfaffen und Herren zu überwinden, die es allerdings im geheimen trieben wie der Höllenfürst mit den Mätressen aller Päpste zusammen. S o brauche ich es, verstehen Sie?
Sie verschwand, war nach nicht einmal einer Minute mit einem dicken Buch zurück und drückte es ihm mit bebenden Händen an die Brust.
Edi, der so überrascht war wie kaum jemals zuvor, sah auf den Titel
Die allerneueste klassische Sau