Vom Irren und Wirren

Ein Plädoyer der Ratlosigkeit

Es irrt der Mensch… ließ der große Alte im Prolog zum Faust die Göttlichkeit sprechen und hatte zweifellos recht damit.
Noch mehr recht aber hatte er mit dem Nebensatz …solang er strebt.
Es irrt also der Raffer, der Schätze aufhäuft und nicht aufhört aufzuhäufen. Auch der, der Ruhm aufhäuft, irrt Das letzte Hemd hat keine Taschen, und ruhmreiche Namen vergehen mit dem Wind, der in Unendlichkeiten bläst. Das ist kein Irrtum und steht auch nicht im Faust.
Irrt aber auch der/die Elende, der/die strebt, aus dem Elend rauszukommen? Der/ Die versucht, Harmonie herzustellen in sich und zwischen sich und seiner/ihrer Umgebung, der/die danach trachtet, Mißstände und Unrecht aus der Welt zu schaffen? Irrt der/die Suchende?
Ja, auch der/die irrt, solange er/sie nach Illusionen stebt.
Aber es ist und bleibt das unzerstörbare Vorrecht der Jugend, solchen Irrtümern anheimzufallen, denn sie irren nicht um der Reichtümer für sich selbst, sondern um einer irrenden Menschheit willen.
Doch sie irren umsonst, weil die Menschheit leugnet, dass sie irrt.
Und sie werden benützt.

Lieb Vaterland, magst ruhig sein

Da waren die sich entwickelnden Gehirnzellen der Menschlein des noch jungen vergangenen Jahrhunderts, die den Dreck der imperialen Propaganda ungefiltert eingepflanzt bekamen. Im Elternhaus, in der Schule, auch von der waffensegnenden Kirche. Tschingdarassabummtäterä, Steckenpferd und Kavallerie, jeder Stoß ein Franzos, Amen.
Als das Lügengebäude sang- und klanglos zusammenbrach, tobte die rote Revolution im Lande, und die Weißen wütten dagegen. Dolchstoß, Schmach von Versailles. Reichswehr versus Matrosen, Soldatenräte.
Dann Sturmabteilungen mit Koppel, Kappe und Schulterriemen. Zackige Mannsbilder mit dem Schmalspurschnurrer ihres Idols.
„Mein Kampf“ war gerade in Arbeit in luxuriöser Festungshaft, wer sollte da seine Begeisterung verstecken? Gerade die Richter nicht.
Wer zehn Jahre später nicht begeistert war, wurde ein paar Tage in Schutzhaft genommen. Schutz vor den Begeisterten, die die Begeisterungsunwilligen sonst gepiesackt hätten.
Hieß es nicht „Nationalsozialismus“, ein nationaler Sozialismus also, ein Widerpart gegen den internationalen „Bolschewismus“, vom Weltjudentum beherrscht? Ob und inwieweit man sich mit der Ungeheuerlichkeit einer solch diabolischen und gleichzeitig lächerlichen Verleumdung ernsthaft auseinandersetzte, ist nicht bekannt. Bedächtige taten es.
Insbesondere die meisten jungen Heißsporne taten es nicht, es sei denn, sie stammten aus zwei Generationen Arbeiterbewegung.
Aber es dauerte nicht allzu lange, bis dem Einen oder Anderen die Augen auf- und übergingen. Viele waren es nicht.
Bei Wikipedia, wo man ansonsten den Anspruch auf Qualitätskontrolle hätschelt, ist nachzulesen, dass sie ihren jüdischen Schulleiter hingehängt haben soll um ihrer eigenen Karriere willen. Was das bedeutet, sollte es zutreffen, brauchen wir nicht zu diskutieren.
Doch dieses soll kann bereits Rufmord sein. Es ist eine besonders heimtückische Form der Zerstörung Mißliebiger und beginnt im engsten Freundeskreis.
Es heißt, er/sie hätte…
Wer weiß, ob er/sie nicht…
Hast du schon gehört? Er/sie wird verdächtigt…
Wieviele solcher Floskeln, die nichts anderes bedeuten als Denunziantentum und Blockwartsystem, übertrumpften sich seit Menschengedenken in ihrem blutgierigen Buhlen um Gehör, wenn es darum ging, einen Menschen fertigzumachen?

„Sie hat uns alle belogen“

Andererseits denkt man, wer sich zeitlebens durch harte gegensätzliche Positionen kämpft, kann nur ein Sucher sein. Ein Sucher, der von Adolf Hitler bis zu Kim il Sung irrt. Ein Sucher, der nie finden wird, was er sucht und das vielleicht sogar weiß. Die Grenze zur eigenen Zerbrechlichkeit durch diese Selbstauslieferung an Skylla und Charibdis ist immer präsent und trägt somit auch die eigene Verzweiflung in sich.
Wer sich selbst belügt, dem ist es kein Makel, andere zu belügen, weil er im Moment des Lügens die Lüge nicht als solche erkennt.

Es irrt der Mensch, solang er strebt

Wonach strebte sie, die irrende Luise Rinser, die jetzt 100 Jahre alt geworden wäre?
Nach Auskommen und einem Häuschen?
Wofür sperrten die Nazis sie ein?
Wie viele Widerstandskämpfer gab es, die keine waren?
Ging es nicht um Leben und Tod?
Wer hätte sich wie verhalten, hätte er/sie in jener unseligen Zeit gelebt?
Also: Wer von denen, die sich ernsthaft prüfen, wirft reinen Gewissens den ersten Stein?