Vom Leiden der Werte

Trutzigste Burgen, prächtigste Schlösser, filigranste Kunstwerke, reichste Banken sind nicht für die Ewigkeit geschaffen, denn Ewigkeit ist und bleibt halt Ewigkeit. Alles vergeht oder verfällt so, wie es vorher aufgebaut wurde durch die Arbeitskraft von Sklaven, Leibeigenen, Lohnabhängigen, hilfsweise zusammengeraubtes, am wenigsten aber ehrsam erworbenes Kapital. Wie es scheinbar statisch oder konstant ist, bewegt es sich, fließt und vergeht unmerklich. Selbst der Mensch, der sich für die Krönung der Schöpfung hält, verfällt, siecht dahin, geht von dannen, obgleich er sich zu gerne davon ausnehmen möchte.
Der Verfall beginnt mit der Beendigung des Aufbaus, bisweilen sogar bereits während der Aufbauphase, denn Zeit, Regen und Wind, Eis und Schnee, Sonne und Hitze, Strauchdiebe und Schufte nagen an Mörtel und Gestein, an kleinen Vermögen und Guthaben, sobald diese zusammengefügt oder jene mühsam vom Munde abgespart wurden.
Nicht anders erging es den alten Werten. Doch sie litten am meisten.
Der Wert einer Sache wird bestimmt durch die Verfügbarkeit derselben, tritt in Erscheinung in einer Anzahl von Scheinen oder Münzen, abstrahiert in Kontoständen, in Scheckkarten, in Papieren, ob faul oder frisch, ob giftig oder heilsam.
Solchen Werten huldigt, zwar schon immer, in besonderem Maße aber unsere gegenwärtige Welt.
Damit  wir  das Wesen moderner Werte und deren Vermittlung grundlegend verstehen, beginnen wir am besten in der Kinderstube.
„Alles haben, alles dürfen, alles wollen“, so überschrieb vor etlichen Jahren das renommierteste Nachrichtenmagazin Deutschlands eine Titelreportage und umriß damit Ursprung und Ausbreitung der neuen Werte.
Eine pfiffige Berliner Firma bot da beispielsweise ein Rundumentertainment für Kindergeburtstage an: Wow-Effekte, Soundteppich, Showeinlagen, Action mit Tempo, ja nicht länger als je fünf Minuten. Wegen der Langeweile. Kosten: DM 687 für drei Stunden. Motto der Veranstaltung: Ich bin heute Königin. Nichts Neues freilich, denn das war das Geburtstagkind schon immer. Das mit angelieferte üppige Geburtstagsmenü blieb unangerührt und erfreute am Ende das Kaninchen, eines der Geburtstagsgeschenke des Vorjahres.
Die Geschenke waren nicht zu überschauen. Liebe schenken bedeutet Liebe erzeugen und erhalten.
Die nächste Stufe ist die der Wertentfaltung. Das findet in der Schule statt. Wenn ein 13-jähriger Schüler auf Nasenhöhe – wie vor langer Zeit auf den Verfasser gekommen – seinem Lehrer flüstert: „Ey Mann, die Lehrer sind alle Arschlöcher“, dann kann der sich, erste Möglichkeit, eventuell artig bedanken und ihm 10 Euro schenken oder, zweite Möglichkeit, pastoral antworten „Mäßige dich bitte in deiner Ausdruckweise“.
Oder, drittens, ihm eine knallen.
Ad 1: Der Schüler wird reagieren:“ Ey Mann, das macht 20 Euro … mindestens! Sonst gibt´s Ärger, du Arschloch.“
Ad 2: Das sei ein Beleidigung, kommen Schüler und Eltern aufgrund ihres außerordentlichen gegenseitigen Vertrauensverhältnisses überein, und der Lehrer zahlt, die bußfertige außergerichtliche Unterwerfung vorausgesetzt, 900 Euro Strafe, cash, und deshalb von den Empfängern nicht zu versteuern.
Ad 3, ultimum oder libidum: Weil der Lehrer damit gegen die abendländische Werteordnung verstoßen hat, wird der Schüler dessen Bestrafung planen und ein Mordkomplott entwickeln, und der Vater, ein Jäger oder sonstiger Verteidigungsspezialist, Kratzspuren an seinem Waffenschrank entdecken, wenn die verwerfliche Tat des Pädagogen gesühnt ist. Ein Teil derjenigen, die von dem bestraften Lehrer pädagogisiert wurden, werden in der Regel mit bestraft, weil sie dessen ungeziemliche Werteordnung widerspruchslos oder gar hündisch ergeben übernahmen.
Laut neuester Erhebung des Allensbacher Instituts für demographische Entwicklung liegt der Schwerpunkt von Eltern im Bereich der Vermittlung von erziehlichen Schwerpunkten wie folgt:
– mehr Selbstvertrauen
– Durchsetzungsfähigkeit
– Eigenständigkeit
versus
– Anpassungsbereitschaft
– Bescheidenheit
– religiöse Orientierung
Religiöse Orientierung, einst die Grundlage jeder Wertvorstellung des Abendlandes, beinhaltete die Basisforderungen ehtischen Handelns in einer Gesellschaft, wurde erstmals niedergelegt im Dekalog des Buches Mosis und ist daher nicht mehr relevant.
Selbstvertrauen ist, keine Frage, von der Überheblichkeit weit entfernt,  nicht anders als die Durchsetzungsfähigkeit vom Faustrecht, dier Eigenständigkeit von der egoistischen Abkapselung, der Sozialunfähigkeit.
Nämlich: Die Anpassung an in Jahrtausenden entwickelte Normen des Zusammenlebens in der Gemeinschaft führte doch immer geradewegs zu Duckmäusertum und Jasagerei, nicht wahr?
In den kleinen Einsteins reinkarnieren sich die großen Einsteins, die sie immerhin gezeugt und ihnen durch diesen Gnadenakt ihre eigene Klugheit mitgegeben haben.

Wie aber verhält sich das bei den Älteren oder Alten, die immer Hunger haben, nicht satt zu kriegen sind und deshalb auch nie genug kriegen? Bekamen die früher auch alles, was sie wollten?
Mitnichten, sie hungerten, wuchsen in Lumpen auf.
Gut, dann wollen sie vermeiden, daß es wieder so kommt, das ist für jedermann verständlich, der auch hungerte und in Lumpen aufwuchs. Sie sind Kinder ihrer Zeit. Selbst schuld, wer da nicht heraus will.
Und welcher gestandende Schillervogel imponiert nicht gerne dem Pfauenweibchen? Es geht doch letzten Endes um die Arterhaltung der Schöpfungskrönung. Auch akzeptiert.
Daß da ein wenig Macht dazu gehört, ist eine Selbstverständlichkeit. Sonst käme doch jeder dahergelaufene Lump und machte diese Krönung zunichte.
Wenn einer sich dann freut, den Lumpen ausgestochen zu haben, dann ist es die angeborene Schadenfreude, die einzig wirkliche Freude des Menschen.
Jeder, der mit der Klugheit seiner Erzeuger gesegnet ist, hat gefälligst zu beweisen, daß er der Klügere ist. Die Dummen haben nichts anderes verdient als daß man sie ausnimmt nach Strich und Faden.
So schreibt eine alte Lebensweisheit dem Klugen vor: Jeden Morgen stehen mindestens tausend Dumme auf, die man bescheißen muß. Das ist sich der Selfmademan schuldig.
Im Gegensatz zu einem zwar ebenso alten, nichtsdestoweniger dummen Spruch trügt der Schein eben nicht:
Kleider machen Leute.
Autos machen Leute.
Haargel macht Leute.
Großes Maul macht Leute.
Glatzen machen Leute.
Operierte Brüste machen Leute.
Wespentaillen machen Leute.
Deutschland-sucht-den-Superstar macht Leute.

Es ist folglich nicht wirklich alles so neu, was mit den leidenden alten Werten zu tun hat.
Jede unaufhaltsam niedergehende Hochkultur muß sich den Schein bewahren, um dereinst aufzuerstehen wie Phönix aus der Asche, um noch schöner zu sein als vorher.
Ja, da liegt der Wert begraben. Die Archäologen des Geistes sollen ruhig schon mal anfangen zu buddeln, dann findet man vielleicht etwas wieder in einem halben Jahrtausend.