Vom Los der Alternative(n)

Ey, Alter! Diese freundliche Anrede hört man seit ca zwei Dekaden in den erkenntnistheoretischen Dialogen der Jüngstintellektuellen aus dem PISA-Zeitalter. Sie meinen damit nicht, wie man nun annehmen möchte, Papa und Mama, Opa und Oma, für die es weit schmeichelhaftere Attribute gibt, sondern meist sich selbst.
Weil einige von diesen Hochbegabten auch schon etwas Küchenschabenlatein mitbekommen haben, liegt die Vermutung nahe, sie gebrauchten wissentlich oder auch wider besseres Wissen das lateinische Adjektiv alter, altera, alterum, der, die, das Andere.
Von solchen schwerwiegenden Überlegungen mag sich die Unwortfindungskommission leiten haben lassen, als sie sich wieder mal auf die Suche machte, fündig zu werden.
Und bald war es raus: alternativlos. Besonders häufig gebraucht von den Leuten, die an der Spitze unserer politeia stehen. Die haben nämlich auch Extraspezialisten, arbeits- und vor allem erfolglose Germanisten, Anglisten, Romanisten, Slawisten, Schlawiner und nicht zuletzt Sinologen – China wurde, von den meisten der Bundestagssesselschläfer unbemerkt, mittlerweile zur Weltmacht Nummero eins – für Wortfindungen, die man unter das Volk bzw. ihm in die Augen streuen kann.
Jetzt soll es also auf einmal und tatsächlich etwas geben, das alternativlos ist? Alternativen, die keine solchen mehr haben? Ja was soll das denn sein? Ist die Weisheit pur aus- und das Ende der Tage angebrochen? Meinen könnte man es manchmal schon.
Dabei hatte alles so schön angefangen mit den Alternativen, Inhalten wie Politikern: sie fuhren mit dem Fahrrad fast mitten in den Bundestag hinein, strickten Strümpfe im Plenarsaal und störten mit konstruktiven alternativen Gedanken, die manchmal sogar richtig witzig waren, die satten Hauptschläfer in den hinteren Reihen.
Heute hecheln sie nach 20%. Die Alternative dazu wären freilich 50.
In der freien Wirtschaft pflanzten die Alternativen frei nach  Rousseau Gemüse für den eigenen Verzehr an und stellten lustig surrende Windrädchen im Gärtlein auf.
Die Alternative dazu war, dass andere kamen und mit diesen Ideen alternativlos die Verbraucher usurpierten, die davon freilich nichts merkten. Jetzt stellen sich sogar in den Supermärkten die Bioprodukte so quer, dass man aufpassen muss, sich nicht den Oberschenkelhals daran zu zerbrechen, und auf den Hügeln hoch, in den Tälern tief, den Meeren weit drehen sich Windräder wie aus Gullivers Reisen in das Land der Zwerge. Dass das ein wenig teurer ist, spielt keine Rolle. Qualität, also jeder wurmstichige Runzelapfel, jede sandbelassene Winzmöhre, jedes Kartoffelkügelchen und jedes tosende 200-Meter-Orkanrad haben eben ihren Preis
Zuallererst aber war alternativ die Bezeichung für eine Generation, die nicht genau wusste, was, dies aber unter allen Umständen durchsetzen wollte.
Alternativ war alternativlos in einer Gesellschaft, die alle vorstellbaren Alternativen zu bieten hatte: man konnte auswählen zwischen Politikerköpfen, denen man ansonsten besser nicht im Dunkeln begegnen wollte; man konnte Arbeitsplätze wählen, die sich in ihren Millionärsmöglichkeiten gegenseitig totschrien um Klienten, die sich an ihnen bedienen sollten; die freie Wahl des Urlaubsortes war durch das Grundgesetz sichergestellt; sogar die freie Religionsausübung im Islam, Buddhismus, Hinduismus oder jeglicher Art von Schamanismus oder Scharlatanerie war gewährleistet.
Und schließlich wurde sogar die ultimative Alternative geschaffen, das Dschungelcamp.
Die alternative Welt war glücklich geworden und brauchte keine Alternativen mehr. Das Unwort hatte sich lange vor seiner Infragestellung etabliert.
Brauchen wir infolgedessen wirklich noch Alternativen? Wenn ja, wäre das Unwort gerettet.
Bei den Politikern ist das eine rein rhetorische Frage, eine Binsenfrage gewissenmaßen.
Falls wir sie bekommen, diese Politiker, schafft das Raum für neue Alter-nativen. Dialektisch eben bis in die Unendlichkeit.
Das Unwort des Jahres selbst betreffend bedeutet es nichts anderes als dass es für alternativlos sehr wohl eine Alternative gibt: Brüderle.