Was ist Wahrheit?

Der mächtige Pilatus, römischer Procurator in der Provinz Judäa, wusste die Wahrheit nicht. Und der Kommunarde Fritz Teufel, ein gewitzter Politclown, war bereit, sich vor Gericht zu erheben, falls es der Wahrheitsfindung diene.
Beide waren jedoch keine Künstler.
Künstler nämlich sind begnadete Genies, die die Wahrheit erschnuppern dürfen.
Dem Verehrer süßen romantischen Chorgesangs ist es also vergönnt, einen Teil der Wahrheit zu erahnen: Stumm schläft der Sänger, dessen Ohr gelauschet hat an and´rer Welten Tor heißt es im „Schottischen Bardenchor“ von Friedrich Silcher, dem schwäbischen Herzenserwärmer.
Der Künstler ist in der Tat ein Wanderer, der nicht nur lauscht, sondern vom himmelsgleichen, aber doch sehr schmalen Grat des Genius aus hinabsehen darf in die dunklen Täler des Wahrheitwahnsinns. War da nicht was mit Hölderlin? Mit Schumann? Mit Wagners Villa Wahnfried?
Nein, nein, wirst du sagen, das ist keine Villa, sondern eine  Brauerei hoch über der Stadt Bayreuth, die man von der Autobahn aus sehen kann. Also Wagner Bier oder sowas.
Außerdem müsse man unterscheiden zwischen dem echten Wahrheitswahnsinn des Genius und dem Größenwahn des Parvenue.
Und es  gibt ja auch noch andere Künstler. Solche, die uns zu verbissenem Lachen bringen, z.B. Joseph Beuys oder Udo Lindenberg.
Ja, aber der Udo wird, außer für seine Strichmännchen und Kopffüßler, nicht auf Vernissagen gefeiert, sondern wenn er im Fernsehen Laute gibt, das ist doch kein Vergleich.
Vernissagen-Prosecco ist jedenfalls eine Art Wein, von dem es heißt in vino veritas. Sprich, je mehr du davon säufst zugunsten von Beuys´ Erben, desto näher kommst du der Wahrheit. Und wenn du dann noch deine Kinder mitnimmst, kannst du getrost von dir und ihnen sagen: Kinder und Narren erkennen die Wahrheit. Auf Vernissagen zumindest.
Das ist gewisslich wahr.
Eine ganz aktuelle Wahrheit präsentieren nun die Künstler der Wiener Gruppe „God´s Entertainment“. Der Himmel kann denen aber schwerlich auf die Sprünge geholfen haben, denn sie sperren Menschen zusammen mit Tieren in Käfige. Die Tiere, Bären und Füchse, sind zum Glück für ihre Mitgefangenen wegen Tollwutgefahr ausgestopft. Die Menschen sind Harzer und Obdachlose, Punker und sogar eine allein erziehende Mutter, nicht ausgestopft, sondern quicklebendig und dürfen von Besuchern gefüttert werden. Ob sie auch knurren, konnte bisher nicht in Erfahrung gebracht werden.
Die Wahrheit dabei ist vermutlich, dass diese beneidenswerten Menschen so stark wie Bären und schlau wie Füchse sind.
Bestimmt kann der Wahrheitsliebende da auch Prosecco schlürfen. Also nichts wie hin, ihr Narren mit Kindern. Und vergesst nicht, ein Säckchen mit hartem Brot mitzunehmen. Das schärft die Zähne der Käfigmenschen, damit sie sie besser fletschen können.

Die Präfekten dieser Wiener Wahrheitsbesitzer von „God´s Entertainment“ waren offenkundig die Herren Künstler Nitsch und Muehl.
Nitsch verwahrheitete sich mittels Kreuzigungen, Kadavern, Blut und einem Rindviehabwurf aus einem Hubschrauber und bekam dafür eine stattliche Anzahl von Kulturpreisen österreichischer Qualität.
Muehl, ein Kommunarde von anderer Art als der schlitzohrige Fritze aus Berlin, ließ Männer um die Wette pissen und eine nackte Frau mit Schweinekot einbalsamieren.
Wahrheitsgemäß wurde Letzterer wegen Kindesmissbrauchs für etliche Jahre in den Knast geschickt. Ob er sich zur Urteilsverkündung der finalen Wahrheitsfindung halber erhob, ist unwahrscheinlich. Vom Denken eines Fritz Teufel war er nämlich meilenweit entfernt. Dafür legen seine Aktionen den Verdacht nahe, er sei mit Einem gleichen Namens verbunden gewesen, den man auch den Leibhaftigen nennt.

Wiener Aktionismus im Dienst der Wahrheit?
Saubär´n san´s, dreggade! hätte Karl Valentin gesagt.
Das ist die Wahrheit, die reine. Schade, dass Pontius Pilatus das damals nicht erfahren durfte. Er hätte seinen prominentesten Gefangenen sofort freigelassen.