Flieg, Engerl

IX. Gewalt und Schuld

Lena schrak hoch. Es war Nacht geworden. Sie sah auf die Uhr an der Wand. Was war ihr da in ein paar Stunden alles durch den Kopf ge-gan-gen, dass sie alles um sich herum vergessen hatte? Von A bis Z alles hochgekommen, in den kleinsten Kleinigkeiten, die aber nur scheinbar Kleinigkeiten gewesen waren, in ihrer Summe dagegen ein Leben widerspiegelten, das kein Leben war, sondern ein unerbittlicher Kampf um das Leben.
Egid war noch immer nicht heimgekommen. Wie so oft schon. Sie aber hatte lange in banger Erwartung gehofft. Wie so oft schon.
Kein Abendbrot.
O Hoffnung…
Bertl, der ab und zu einen Laib Brot, Käse und sogar etwas Wurst gebracht hatte, war auch schon eine ganze Weile nicht mehr gekommen. Er hatte es angedeutet: Der Krieg frisst den Menschen auch noch das vom Teller, was sie dringend zum Leben brauchen.
Sie brachte die Kinder zu Bett, die nicht fragten und legte sich dann selbst hin. Das war das beste Mittel gegen den Hunger.
Da erhellte ein Blitz die Schlafkammer.
Also doch ein Gewitter. Es hatte nicht so ausgesehen heute, den ganzen Tag nicht, doch hier oben sah alles anders aus, als es in Wirklichkeit war, dachte Lena bekümmert.
Ein Blitz?
Der Blitz blieb stehen, mitten im Raum. Kein Donner folgte. Merkwürdig, es hatte kein Wetterleuchten gegeben. Und das ferne Grollen, das ein Gewitter ankündigte, auch nicht.
Der Blitz war zudem nicht grell wie sonst, dass einem nachts die Augen verblendet wurden.
Sein Licht war mild.
Verwundert sah Lena um sich.
Der Blitz hatte sich aufgefächert im Licht einer Unmenge von Kerzen, die überall standen, wo ein wenig Platz dafür war. Golden spendeten ihre kleinen Flämmchen warme Helligkeit und vertrieben gegenseitig die winzigen Schatten, die sie warfen.
Sie stand auf, um das Wunder genauer zu betrachten.

Gott zum Gruße, meine liebe Lena.

Ein heißer Schauer fuhr Lena über den Rücken. Die Stimme! Hanneles Stimme. Langsam drehte sie sich um. Da saß Hannele in der Ecke und drehte lächelnd einen Strauß Himmelsschlüssel in den Händen.

Für dich Lena. Ich möchte dich um Verzeihung bitten, dass ich mich so lange nicht sehen lassen habe. Ich wollte euch einfach nicht stören in euerem Glück. Aber jetzt wollen wir erst einmal essen.

Sie erhob sich, umarmte Lena, die anfing zu weinen und weckte der Reihe nach die Kinder auf. Mit großen, ungläubigen Augen bestaunten sie das fremde Mädchen in dem hellen Glanz, der es umgab.

Habt keine Angst, Kinder. Ich bin Hannele, die beste Freundin euerer Mutter. Ich weiß, dass ihr Hunger habt. Kommt, setzt euch an den Tisch. Ich habe euch feine Sachen mitgebracht.

Da stand eine Schüssel mit duftenden Bratenstücken und Würsten auf dem kleinen Tischchen am Fenster. Und als ob das nicht reichte, zauberte sie auch noch einen Krug Wein aus ihrem Bündel.
In die Kinder kam Leben. Sie sprangen von ihren Strohschütten, drängten sich neugierig um den unbekannten Besuch und hatten keine Spur von Scheu mehr. Jedes wollte Hanneles Hände ergreifen.
Nur Josef stand etwas abseits. Seine Augen leuchteten. Verwirrt schaute er dem Treiben um das hübsche Mädchen zu.
Lena, von ihrer Überraschung gelöst, betrachtete ihn verstohlen. Das war doch mehr als Bewunderung…
Schmerzhaft fiel ihr die erste Begegnung mit Egid ein. Das war auch mehr als Bewunderung gewesen – von ihr aus. Aber Josef war doch noch ein Kind. Zehn Jahre alt… na, wer wusste, was in einem zehnjährigen Buben schon alles vor sich gehen konnte.
Hannele hatte Mühe, die Kinder zu bewegen, sich an das Tischchen mit den Köstlichkeiten zu setzen. Auch das war sehr merkwürdig, denn ihre Gesichter waren vom Hunger gezeichnet.

Wir wollen tanzen, Hannele…

Ja, mit dir wollen wir tanzen…

Du bist eine Königin, Hannele…

Putzmunter sprangen sie um Hannele herum und formten einen Ringelreihen in der engen Stube.

Zum Tanze da geht ein Mädel
mit goldenem Band
das schlingt sie den lieben Kindern
ganz fest um die Hand
Hoi heissa, hoi heissa
ganz fest um die Hand

Woher kennen die das Lied? fragte sich Lena. Nie hatte sie mit ihnen ein Tanzlied gesungen oder gar getanzt. Das wollte sie sich für später aufheben.

Ihr müsst jetzt Hannele folgen, sie ist nicht nur unser lieber Gast, sondern hat uns feine Sachen mitgebracht. Setzt euch, ihr habt doch Hunger. Fast zwei Jahre lang habt ihr schon Hunger, nun esst, Kinder!

Endlich setzten sie sich und aßen. Hannele sah ihnen zu. Sie habe schon im Himmel gegessen, erklärte sie den fragenden Gesichtern.
Im Himmel? wollten sie wissen. Dort droben? deuteten sie an die Stubendecke.
Nein, noch viel weiter oben, lachte Hannele.
Ob es im Himmel jeden Tag so gute Sachen gebe?
Ja, der Himmel hat alles, erwiderte Hannele.
Dann wollten sie mit ihr in den Himmel, lärmte die Schar.
Auch Josef war nicht mehr scheu.

Ich gehe mit dir zum himmlischen Traualtar, Hannele. Und Petrus steckt uns die Ringe an. Dann muss Mutter weinen wie Frau Eule auf der Vogelhochzeit.

Hannele gab ihm einen Kuss, und die Geschwister verbeugten sich vor ihm, als sei er der Himmelskönig.

Und jetzt wollen wir wieder tanzen, Hannele. Den Hochzeitstanz. Los, wir tanzen den Hochzeitstanz!

Sie warfen die Schüssel um, dass die Bratenstücke und Würste über den Fußboden kugelten, drehten sich um sich selbst wie ein Knäuel von Wirbelwinden und aus flehenden Mündern schallte es hohl Hunger! Hunger! Hunger! Wir verhungern! Du lässt uns verhungern, Mutter, das ist eine große Sünde! Dein Vater wird dich strafen dafür…
Lena stürzte sich auf die Würste und Bratenstücke, schlang alles, was sie erwischen konnte in sich hinein, doch auch ihr Hunger wich nicht.
Ein dumpfes Stampfen auf der Brücke über den Eisbach übertönte alle Hungerschreie der Kinder.
Tok, tok, tok…
Unregelmäßig klang es. Wie immer, wenn er aus dem Wirtshaus kam.
Schlagartig war es dunkel in der Stube.

Hannele, Hannele, wo bist du?… ich dachte, wir wollten essen… jetzt kommt er, was wird es wieder geben? Bitte, bitte, bleib da, Hannele…

Doch es war und blieb stockfinster in der Schlafstube. Regelmäßig atmeten die Kinder auf ihren Strohsäcken. Voller Angst kroch Lena ins Bett. Dann flog krachend die Tür auf.

He… wo bist du… Vroni? Ich weiß, dass du da bist… ich erwische dich schon… komm, zier´ dich nicht, Vroni, wo bist du?… Jetzt gehörst du mir, wart´, jetzt werd´ ich es dir besorgen, anständig besorgen werd´ ich es dir… du hast mich lang genug an der Nase rumgeführt…

Ein Stuhl fiel um. Dann noch einer. Die Kinder wachten auf. Unterdrücktes Schluchzen war von ihren Strohschütten zu hören. Sie ahnten kommendes Unheil, wie immer, wenn der Vater getrunken hatte.
Die Bettstatt vibrierte. Er hielt sich daran fest. Noch zweimal tok… tok.
Jetzt riss er die Bettdecke zurück, tastete nach Lenas Körper. Stocksteif lag sie dort.
Er warf sich auf sie, die keinen Laut von sich gab. Sie presste die Beine zusammen, doch er zwang sie mit Kraft des Betrunkenen, der noch nicht zuviel hatte, auseinander. Sie stieß mit Armen und Füßen nach ihm, griff ihm ins Gesicht, drückte den schwitzenden, Schnaps und Tabakrauch ausdünstenden Kopf weg, riss an seinen Haaren, schlug, kratzte, biss.
Das stachelte ihn noch mehr an.

Aah, eine Katz´… eine Wildkatz´… so ist es recht, das hab´ ich mir gleich gedacht… und eine Wildkatz´ brauche ich, ich hab´ gewusst, dass du kein fades Weibsbild bist…

Wild schnaufend drückte er ihre Arme nieder, ihre Kräfte erlahmten, die Luft blieb weg. Sie ließ es geschehen.
Die Bettstatt bebte unter den Stößen des mächtigen Männerleibs, und der Holzstumpf rammte im zerstörerischen Rhythmus der Urgewalt gegen die Bettlade, als habe er sich in das Gatter des Sägewerks verwandelt. Knurrend kamen Wortfetzen über seine geifernden Lippen, die nur Lena hören konnte.

So, Vroni… jetzt gehörst du mir, du Luder!… Wie lange… hast du… mich zappeln lassen… jetzt hab´ich dich… das Weib… sei dem Manne untertan, hast du gehört? Aah, wie… gefällt´s dir … Vroni, du verdammtes Luder?

Die Kleinen schluchzten lauter. Wussten sie, was geschah? Sie hatte es nicht gewusst, wenn der Vater über die Mutter hergefallen war, sondern geglaubt, er wollte sie aus dem Bett werfen, um es für sich allein zu haben.
Josef wagte ein verzweifeltes Vater… nicht…
Der hatte kein Ohr in seiner Raserei. Lena flehte.

Bitte, Egid… bitte…

Das Weib sei dem Manne untertan! Hab´ ich gerade gesagt, Vroni! Halt´s Maul… ich bin dein Herr… so steht´s in der Schrift, der heiligen, kapierst du?

Lenas Lippen bewegten sich im stummen Gebet. Ihre Worte hörte sie nur in den eigenen Ohren Ave Maria, gratia plena… Ave Maria, gratia plena… Ave Maria… lass es vorübergehen, lass mich nicht wieder schwanger werden, bitte, bitte, lass es nicht zu… soll ich ihn hassen lernen, heilige Maria? Bitte, bitte, kein Kind mehr…

Das infernalische Zusammenspiel von Erschütterung und rohen Flüchen, von tierischem Grunzen, Schnapsdunst und Männerschweiß steigerte sich zum Höllenreigen, das Bett ächzte und schien am Auseinanderbrechen.
Draußen riss die Wolkendecke auf, und der Mond erleuchtete kurz den Raum. Da sah sie seinen Kopf.
Es war der Kopf, auf den mit dem Holzscheit geschlagen hatte. Ein entsetzliches Grauen erfüllte sie.

Vater!

Er war es, und er tat mit ihr, seiner eigenen Tochter, was er so oft mit der Mutter getan hatte. Der Mutter, die um Gnade gewinselt, gefleht, gewimmert und Schmerzensschreie ausgestoßen hatte gegen seine tierische Gewalt. Damals hatte sie es nicht begriffen auf ihrer Strohschütte in der Ecke. Und nun war sie selbst dran.
Der Alte lag auf ihr und tobte seine ekligen Gelüste aus. Er war wiedergekommen, obwohl er sich in den Eisbach gestürzt hatte. Großer Gott, warum? Warum nur?
War er ein Untoter, einer, der nie Ruhe finden konnte für seine Taten? Und es doch weiter tun durfte?
Hannele, warum bist du fort? Du hättest ihm ein Holzscheit auf den irren Kopf schlagen können, du hast die Himmelsmacht, aber du bist einfach fortgelaufen!

Vater! Was tust du? Du kannst doch nicht… ich bin deine Tochter, die Lena! Hör auf, Vater, bitte, hör auf… Hilf, heilige Mutter Gottes, hilf doch endlich!

Sie schrie es hinaus, aber auch das hörte der Wüstling nicht in seinen niederen Trieben. Wenige Sekunden später bäumte er sich auf und sackte dann zusammen. Nur noch sein Schnaufen und das Weinen der Kinder war zu hören.
Er erhob sich mühselig und verschwand wortlos aus der Schlafkammer.
Lena fühlte sich besudelt. Schmutzig, dreckig, verseucht, aussätzig.
Der Vater?
Nein, Egid…
Und wenn es doch der Vater gewesen war? Sie hatte kein Gesicht gesehen, nur den verhassten Kopf, nur Gestank und Dreck gerochen.
Das Tok, Tok vorher? Das hatte er vorgetäuscht, der alte Unhold… ja, um die Spur auf Egid zu lenken. O großer Gott, warum das alles? Wo ist deine Gerechtigkeit?
Sie sah sich um. Wo war Hannele? Warum hatte sie das zugelassen? Aus Angst? Hatte sogar Hannele Angst vor dem Ungeheuer?
Sie stand auf, ging hinaus zum Brunnen und wusch sich. Hatte das einen Sinn? Konnte man solchen Schmutz wegwaschen? Was würde aus dem Schmutz entstehen?
Was, wenn das nächste Kind daraus entstehen würde? Es wäre ein Kind des Unrats. Heilige Mutter Maria, du Unbefleckte! Du hast keinen Schmutz empfangen. Ich aber gehöre zu den Befleckten, zu den Beschmutzten. Warum habe ich nur nachgegeben? Warum bin ich nicht gestorben, statt mich beschmutzen zu lassen?
Lautlos weinte sie am Brunnenrand.