Nun, da wir inzwischen schon etwa bei der Mitte meiner Aufzeichungen angekommen sind, will ich das, was ich vordem als „gravierende Einzelheiten“ bezeichnete, näher erzählen. Ich sehe es als die niedrigsten Höhepunkte meines Lebens, nie vorher, nie nachher so unmittelbar erlebt.
Dr. Dreschflegel prügelte aus Frust oder anderen niederen Beweggründen. Der TEUFEL prügelte zum Lobe Gottes.
Also, Fall 1:
Der Schüler Kurt Wirsing aus Hof, 2. Alt.
Während einer Gesamtchorprobe klappte irgendwas nicht in dieser Stimme. Der TEUFEL: Das klingt ja, als ob man einer Katze auf den Schwanz tritt.
Anonyme Stimme aus der Gegend des zweiten Altes: Miauu!
Der TEUFEL: Wer war das?
Dabei blitzten seine Augen, der Tonfall klang nach Angriff, es herrschte Grabesstille.
Und Kurti meldete sich.
Der TEUFEL: Komm vooor!
Wie oft mußte ich dieses Komm vooor wie die gleißend-gelbe Luft am Horizont vor einem Hagelschlag im Laufe der Jahre noch hören, natürlich nur bei den Knabenstimmen.
Nein, ich muß mich korrigieren; einmal galt es einem, der schon älter war. Es gehört dazu, also dann Fall 4 später.
Kurti ging nach vorne, der TEUFEL stürzte wie ein Irrer vom Direktionspodest herab, legte alle Masse seines Körpers im freien Flug mit der Schlagkräftigkeit seiner Arme und der Abortdeckelgröße seiner Hände zusammen und schlug derart auf den armen Kurti ein, daß dieser nach einigen Sekunden zu Boden ging.
Das war IHM noch nicht genug. Vielleicht wollte er sich nicht bücken; vielleicht fühlte er das Lob Gottes in seine Beine eindringen; er stieß den sich windenden Kurt mit Füßen, wo er ihn traf.
Im Chorsaal herrschte lähmendes, gespenstisches Entsetzen. Nicht einmal einer der schon fast zwanzigjährigen Männerstimmen wagte einen Einwand.
Fall 2:
Motette St.Lorenz, Nürnberg, Chorempore.
Hierzu muß man die örtlichen Verhältnisse näher kennen. Ich werde versuchen, diese zum Verständnis des Nachfolgenden zu beschreiben.
Die Empore befindet sich im Westteil der Kirche auf etwa zehn Metern Höhe über dem Grund des Kirchenschiffes und ist sehr eng, weil direkt dahinter das Pfeifenwerk der phantastischen Orgel angeordnet ist. Ich würde sagen, drei Meter von der Brüstung bis dorthin. In der Breite vielleicht 10 Meter, denn der Spieltisch der Orgel nimmt auch einigen Raum ein.
Auf dieser Fläche hatte der WINDSBACHER KNABENCHOR mit ca 70 Sängern Platz zu finden. Das ging schon einigermaßen.
Äußerst schwierig war es jedoch für uns, die wir in der ersten Reihe standen. Erster und zweiter Sopran, direkt vor der Brüstung, die etwa einen Meter hoch, und in deren Mitte ein Podest in Richtung Kirchenschiff hinausgebaut war, auf dem der TEUFEL dirigierte.
Man stelle sich deshalb vor: Ich war Flügelmann des ersten Sopranes, Hans-Peter Krippner aus Langenzenn bei Fürth der des zweiten Sopranes. Und wir waren gerade so groß, daß wir die Schuhspitzen des TEUFELS direkt vor unserer Brust hatten. Und wir mußten, um ihn dirigieren zu sehen, den Kopf in eine völlig unnatürliche Schräglage nach hinten bringen. Wer versucht, in dieser Lage zu sprechen, wird sich wundern, daß wir so singen konnten, und zwar immer wieder bis zum zweigestrichenen G und höher.
Wieder klappte was nicht, diesmal im zweiten Sopran. Eine Nuance zu tief vielleicht, was keiner hörte. ER schon, denn er zischte: Zweiter Sopran, zu tief! Und nochmal: Zweiter Sopran, zu tief!
Die Mimik dazu und ein beginnendes nervöses Zucken dieses so mächtig über uns agierenden Mannes ließ mich, der ich neben Krippner stand und sang, was das Zeug hielt – unter den entsprechenden Umständen natürlich – um nicht seinem Zorn auch noch anheimzufallen, ahnen, daß etwas in der Luft lag.
Und es entlud sich in dem Augenblick, als ich es dachte:
Ich sehe noch seine spitzen Schuhe, von denen einer vorflog und Krippner mit voller Wucht an der knabenhaften Brust traf.
Dieser taumelte so heftig zurück, daß über die kurze Distanz von drei Metern auch noch die Männerstimmen vor dem Pfeifenwerk ins Wanken gerieten.
Merkwürdigerweise sangen alle weiter, ohne von dem Vorfall mehr Kenntnis zu nehmen als nötig. Aus Angst natürlich. Ich jedenfalls habe fast in die Hose geschissen und sang auch weiter.
Aus Angst natürlich.
Angst war der Angelpunkt dieser Jahre. Angst ist angeboren, wohnt nicht nur dem Menschen, sondern jedem sich bewegenden Wesen von Alpha bis Omega inne. Angst ist deshalb natürlich, warum, weiß nur der Allmächtige. Aber Angst kann verstärkt, forciert, bis zur Perversion getrieben werden für den, den es zu ängstigen gilt. Eine Binsenweisheit. Ich mußte es immer wieder spüren, mich gejagt fühlen, ein schlechtes Gewissen haben, wo ich ging und stand. Das war die Erziehungsmethode dieser GOTTESSTELLVERTRETER!
Glück haben, heißt unter anderem für mich seit dieser Zeit, Angst soweit wie möglich zu reduzieren. Die meisten Menschen reden nicht über die Angst, weil sie sie haben und sich ihrer schämen.
Ich habe es zeitweise mit Epikur probiert. Es gelang mir nicht, meine „Furcht zu überwinden“.
Ich glaube sogar, daß es auch diesem alten Knaben nicht gelungen ist, denn Angst in der eben beschriebenen Systemfunktion kann nie überwunden werden.
Mein Vater zum Beispiel hatte sein Kriegs-Trauma, eine Angst, die, gepaart mit der Urangst des Menschen an sich, wohl kaum ihresgleichen finden kann.
Wie klein also war meine Angst dagegen. Und dennoch: Jede Angst hat ihren eigenen Stellenwert für den, der sie empfindet.
Fall 3: Ein Kurzfall, der sich an einem Sonntagvormittag im Gemeindesaal der Kirchengemeinde St. Egidien/Nürnberg ereignete. Die näheren Umstände sind mir nicht mehr im Gedächntnis, ich weiß also nicht, warum Wilfried Jung aus Altenmuhr bei Gunzenhausen ähnlich wie Kurti von IHM geprügelt und getreten wurde. Man stumpft ab.
Fall 4: Der Fall des Schülers Seidel, nach alter Zählung siebte Klasse, heute elfte. Seidel war Männerstimme, an die sich der TEUFEL körperlich eigentlich nicht ranwagte.
Aber Seidel kam zu spät – mir kam er immer wie ein wertvoller Luftikus vor – versuchte, sich nach hinten zu schleichen, ein unmöglicher Versuch. Der TEUFEL hatte seine Augen überall, stoppte ihn auf halber Höhe.
Wie immer: Komm vooor!
Zusatz: Nimm die Brille ab!
Denn Seidel war Brillenträger.
Er fotzte ihm rechts, links eine, wollte damit möglicherweise für uns Knabenstimmen exemplarisieren, daß wir auch mit dem Wachsen der Stierhaare keine Chance gegen IHN hätten.
Fall 5: Das war mein eigener und auch der einzige direkte Tatbestand der körperlichen Mißhandlung durch IHN.
Wir hatten staatlichen Musikunterricht im Chorhaus, das der humanistischen Lehranstalt, welche ohne das Internat nicht hätte existieren können, in Absprache bzw. vertraglich zeitweise überlassen wurde.
Nicht das ganze, sondern nur der Chorsaal.
Wir hatten also Musikunterricht im Chorsaal, und zwar zu dieser Zeit nicht durch den TEUFEL selbst – später dann wohl – nun aber durch den Klavierlehrer H.
Diesem war ich sowieso über mindestens anderthalb Jahre ausgeliefert gewesen, als er mir während des Klavierunterrichtes zur Schulung des Taktgefühles ständig ein Lineal in den Rücken stieß mit den Worten: Einede, zweiede, dreiede, vierede. Dies sind zum Beispiel Viertelnoten, es können aber auch Triolen sein. Es kann aber auch ein Sechs-Achtel-Takt sein, oder gar ein Neun-Achtel auf vier Viertel umgesetzt.
H. hatte jedenfalls immer sein Brot und seine Thermoskanne dabei während des Klavierunterrichtes in den Zellen und stieß mit dem Lineal, konnte dabei das „r“ nicht richtig aussprechen und es klang eher wie ein „w“.
Daher der Schülerulk: Einede, zweiede, dweiede, viewede, …
Ich hatte Tränen des Zornes in den Augen, wenn er mich stieß.
Besagte Musikstunde begann nach der ersten Pause.
Gerd G., der ständig zu allerlei Unfug bereit war, hatte ein Stück Brot auf den Flügel gelegt und klimperte auf dem geheiligten Instrument herum, als H. eintraf.
Dieser war wohl nicht so gut aufgelegt, sah das Brot auf dem Flügel liegen und begann mit dilettantischen Ermittlungen, die ihm aber nur gröhlendes, pubertierndes Gelächter einbrachten.
Er verschwand daraufhin ganz schnell – und mir schwante Böses.
Ich behielt recht mit meinen Gedanken, denn ein paar Minuten später riß der TEUFEL die Tür auf.
Es wurde sofort wieder gefährlich ruhig, und die obligatorische Frage: Wer war das?! stand im Raum.
Wir hatten zu dieser Zeit schon gelernt, eine gewisse spontane Solidarität zu zeigen, wenn es um Verfolgungsmaßnahmen ging. Aus der gefährlichen Ruhe, die SEIN Auftreten erzeugt hatte, wurde deshalb mit einem Male ablehnendes, eisiges Schweigen im Saal. Vielleicht fühlten wir uns auch sicher in der Klassengemeinschaft, denn wir konnten uns nicht vorstellen, daß er sich an Schülern vergreifen würde, die seiner unmittelbaren Obhut nicht unterstellt waren. Er machte es so wie sonst, schrie: Alles auf! und Weglehner, komm voor!
Ich stand nämlich aus seiner Sicht ganz vorne links in der Reihe. Ich trat vor ihn hin und hatte, eh ich´s mich versah, links, rechts, einige Hiebe im Gesicht, die ich momentan gar nicht spürte, die aber so heftig waren, daß mir ein Furz abging. Brennender Wangen schickte er mich an meinen Platz zurück und rief Hans-Peter Krippner zu sich. Ihm ging es nicht anders. Der Dritte war ein Externer, der Schüler H. aus Neuendettelsau, schon ein ganz schöner Klotz damals, der nichtsdestoweniger um Gnade flehte.
Der TEUFEL ließ daraufhin von einer weiteren Fotzerei ab. Möglicherweise hatte er sich an uns beiden schon abreagiert, oder er sah, daß er mit anderen als Internatsschülern, vor allem, weil in der Klasse auch drei Mädchen – die Tochter des Oberstudiendirektors, Maria H., die Tochter des Dekans, der der Vorsitzende des Direktoriums war, Annemarie S., und die Tochter eines Pfarrers aus Neuendettelsau, Anna-Maria R. – waren, so nicht umgehen konnte.
Nicht wegen der paar Prügel, aber wegen seiner miesen Ungerechtigkeit an wehrlosen Knaben reifte von da an der Haß in mir. Und ich war stolz auf mich, nichts verraten zu haben.