Tatorte, Tatworte

Warum der passionierte Miesmacher Reich-Ranicki den Deutschen Fernsehpreis nicht angenommen hat, verriet er uns im Detail nicht, sondern verdammte das Fernsehen allgemein und pauschal.
Größtenteils hatte er wohl auch recht damit.
Denn neben dem ganzen sonstigen Dreck, den die Privaten seit Jahren über den Äther schicken, folgten die öffentlich-rechtlichen Sender stante pede, und schließlich  kippen jetzt auch schon die Programme, bei denen man sich einigermaßen gut aufgehoben fühlte, sofern man überhaupt auf den Glotzenknopf drückte.
Das heißt, dass selbst ARTE und 3SAT vereinzelt beginnen, in die Verbrechercamps überzulaufen, ins Lager der Mörder und deren scharfsinniger Jäger von den Mordkommissionen in Stadt und Land. Phoenix bildet da noch eine Ausnahme.
Seien es die düsteren, aber coolen Ruhrpott-Schimanskis oder die stiernackigen Kriminaler von Hinterdingharting, aus dem Oberland oder aus der Heide, Geblödel inbegriffen.
Seit der Zeit eines gewissen Francis Durbridge und seinem Halstuchmörder vor 50 Jahren ermitteln selbst Oma und Opa fiebernd mit, wer der Täter ist, obwohl jeder weiß, dass der Mörder immer der Gärtner bzw. dessen Geliebte ist.
In einer exemplarischen Erhebung konnten in einer einzigen TV-Woche 161 Krimis gezählt werden, Wiederholungen desselben Tages, Vormittags- und Nachtprogramm sowie sogenannte Horrorstreifen nicht eingerechnet. Allein an einem Freitag Abend laufen im Schnitt auf ARD und ZDF bis zu vier solche Spektakula gleichzeitig neben- und hintereinander, Tatorte, Polizeirufe, Sokos, Schwedens und Österreichs killing fields. Dafür schiebt man den Welke in der Hoffnung, seine Quote würde endlich sinken, weit in die Nacht hinein.
Doch das Fernsehprogramm genügt noch nicht, auch die „Literatur“ quillt über, seit „Tannöd“ das große, lustvolle, voyeuristische Grausen weckte. Tannöd ist überall auf dem friedlichen Land zuhause. Dabei gab es vor ganz langer Zeit schon Jagdszenen in Niederbayern, aber keinen Kommissar, der diese erhellte.
Was einst die Goldmann-Krimis waren mit Titeln von Edgar Wallace sind jetzt die Klein- und Selbstverleger, die das perfekte Verbrechen in den Biederstädtchen, Käffern, Weilern und Einödhöfen kennen und zu Kohle verarbeiten wollen.
Der beliebteste Beruf gleich nach dem Hartzer ist mittlerweile der Kommissar.
Da zieht es den Bullen von der grünen Aue der Satire nach Tölz oder in die Soutane, um als allwissender Pfarrer Braun eine neue Karriere zu beginnen, und die Kommissare Gebrüder Kluftis lassen das Grauen im Allgäu serienmäßig in Wort und Bild vom Stapel laufen.
Im Frankenland gibt es einen Bier-, einen Fußball- und auch einen Dürer-Krimi.
Wie wär´s mit der Bernauerin, die während der Landshuter Fürstenhochzeit gemeuchelt wird?
Kinder, die die Hauptzeit ihres Daseins vor dem Aufpasser Bildschirm verbringen, verwenden zwei Prozent ihrer Restmuße  auf den  Spielplätzen darauf, Schaukeln und Klettertürme als Deckung für ihre Gefechte zu nützen und schießen beidhändig wie die SEK-Combatprofis. Auch sie haben sich längst an den gewaltsamen, tagtäglichen Tod gewöhnt, mit dem sie auf breiter medialer Front konfrontiert werden.
Ist die Republik denn noch nicht entvölkert wie das Reich nach dem 30-jährigen Krieg? Inzwischen sind nämlich ein Drittel der Bevölkerung Leichen und folgerichtig ein weiteres Drittel deren Mörder. Noch ein Drittel – vielleicht auch Schnittmenge – erfreut sich am Geistkillerdrama Dschungelcamp, das inzwischen auch vom ehrenwerten SPIEGEL mit täglichem Wohlwollen beworben wird. Wen wundert´s also, dass es Bedarf an Horror gibt beim Konsumenten. Unterschichten-TV? Wohl kaum, eher Arena- und Gladiatorenersatz, Blut und Spiele.
Da muss man sich fragen, warum es noch keinen Brüssel-Tatort gibt, weder im Fernsehen noch als Print-Erzeugnis. Denn dort liegen vermutlich die Leichen zuhauf in irgendwelchen Kellern rum. Man weiß allerdings, dass die EU-Kommissare keineswegs die Aufgabe haben, solches aufzuklären. Vielleicht schafft es ja der Edi Stoiber endlich.
Wie dem in der Gesamtheit auch sei, raten wir, eingekreist von einer derart erschreckenden Anzahl von Mördern rein vorsorglich zum Erwerb einer 45er Smith&Wesson-Zwille, einer Art Handkatapult für Kieselsteinmunition, weil das bisher bewährte Pfefferspray zur Selbstverteidigung schon lange nicht mehr ausreicht. Ersatzweise kann man sowas auch selbst basteln. Eine Astgabel vom Haselnussstrauch eignet sich besonders gut dafür.
Denn: Schieß zuerst oder stirb! raunte der pfiffige Lucky Luke im Wilden Westen und ritt nach dem finalen Rettungsschuss auf einen Kaktus in die untergehende Sonne.
Das war wenigstens noch Cowboyflimmern aus dem Land der unbegrenzten Gerechtigkeit.
Fazit: Es wird eines Tages wieder ganz normal werden, dass die Leute sich abschlachten, ohne mit der Wimper zu zucken.
Dann wird man sich nach der Zeit der Seifenopern zurücksehnen, auch wenn mit denen die Totalverblödung begonnen hatte.
War doch immer im Fernsehen! Das ist schließlich so wahr wie das, was in der Zeitung steht.