Tonkunst

In diesem Jahr wird landauf, landab eines Ausnahmekünstlers gedacht, besser gesagt, seines 100. Geburtstags. So wie vordem ein Jahr lang Felix Mendelssohn-Bartholdys und Mozarts gedacht wurde.
Sein Name: John Cage.
Dieser Tonkünstler hat das ohne Zweifel auch verdient.
Wir wollen nur zwei seiner extraordinären Werke in die Erinnerung rufen, die von Experten dem Bach´schen Gesamtwerk gleichgesetzt werden, und die jeder in dieser Bedeutung  kennt. Wer sie nicht kennt, ist hier nicht der richtige Adressat, sprich, ein Banause, ein Torfkopp.
Beginnen wir mit dem längeren Werk.
Es handelt sich um eine Komposition für Kirchenorgel. Diese Komposition wird ohne Unterbrechung im Dom zu Halberstadt aufgeführt, und zwar exklusiv und in ständiger Erneuerung. Es ist in der Tat nicht nur ein längeres Werk, sondern das längste Werk der Musikgeschichte, mehr noch, der Musikweltgeschichte. Gemäß der Planung seiner Gesamtheit wird es 639 Jahre bis zur endgültigen Fertigstellung dauern. Deshalb heißt es auch Organ2 As slow as possible (ASAP).
Praktische Verdeutlichung: Einer der as slow as possible vorgeschriebenen Tonwechsel von e“ nach d´/gis“ im Akkord wurde nach 17 Monaten vollzogen.
Wer in den Genuß dieser Aufführung kommt, darf sich als von den Göttern gehätschelt bezeichnen und deshalb auch Autogramme geben. Diesem handverlesenen Publikum wird daneben ein Fliegenpilzgericht gereicht, denn John Cage war auch Pilzezüchter. Es hilft, das Werk leichter zu verstehen.
Wer dieser Komposition ohne Unterbrechung beiwohnen will, kann ein Dauer-Abo erwerben und getrost über dieser Länge an Ort und Stelle versterben. Er wird also gewissermaßen in das Paradies der Fliegenpilztonkunst eingehen. Welchem Sterblichen war das schon beschieden?
Der Kompositionsplan ist, vorläufig bis 5. Juli 2071, unter de.wikipedia.org/wiki/Organ2/ASLSP nachzulesen

Das zweite Werk heißt 4:33 und ist in seiner Bedeutung für die Musik noch weit höher einzustufen.
Dass Genialität nicht unbedingt mit Länge, also Quantität zu tun hat, beweist diese Komposition für Flügel, der kein Steinway sein muss. Die Länge darf vier Minuten 33 Sekunden, ein wackerer Unterschied zu 639 Jahren,  nicht überschreiten.
Erkennt man die Genialität des Komponisten, der die Extreme der Gestaltung so perfekt beherrscht?
Vom Vortragenden wird höchste Virtuosität verlangt, hat er doch die drei Sätze, die mit „tacet“ überschrieben sind, entsprechend still zu gestalten, das heißt, es dürfen keine Töne erzeugt werden.
Diese conditio sine qua non gelang bei der Uraufführung im Jahr 1952 dem Pianisten David Tudor meisterhaft: Er öffnete in Sekunde Null den Klavierdeckel und schloss ihn nach vier Minuten und 33 Sekunden, ohne einen Ton oder sonstigen Klang zugelassen zu haben.
Das Auditorium tobte – in Begeisterung.

Eines anderen, leider in Vergessenheit geratenen Tonkünstlers muss an dieser Stelle gleichermaßen gedacht werden. Sein Name: Joseph Pujol, genannt „Le Pétomane“.
Seine künstlerische Genialität: Im Gegensatz zum geradezu benediktinischen Schweigegebot der Komposition 4:33 John Cage´s ist die Erzeugung von Tönen, in Melodien eingebunden oder einfach als Schlachtendonner, z.B. des Gemetzels von Austerlitz, unabdingbar.
Oder wenn es nur die Wiedergabe einer Tonleiter oder eines Kinderliedes ist.
Pujol erbeitete dabei mit sehr traditioneller Dynamik in Lautstärke und Tempo.
Der Ort seiner konzertanten Auftritte war das legendäre Moulin Rouge in Paris, und wenn Joseph Pujol gegen märchenhafte Gagen dort seine Kunst darbot, waren auch keine Prolls oder anderer Mob zu Gast, sondern beispielsweise Sigmund Freud und Prinz Edward von England.
Die Könige Leopold II. von Belgien und Christian IX. von Dänemark holten ihn an ihre Höfe zur Privataudienz.
Worin nun bestand seine Tonkunst?
Sie ist mit einem Wort zu erklären, seinem Beinamen „Le Pétomane“, der Kunstfurzer.

Jedem Kunstbeflissenen sei es überlassen, den ihm genehmen Ort der erinnernden Erbauung selbst zu wählen. Musik kennt, wie der Avantgardist weiß, keine Grenzen oder gar moralische Trennschluchten.
Sollte daher das Moulin Rouge in Paris unheiliger sein als der Dom zu Halberstadt?