Schwurbrüder, historischer Roman (Martin Luther)

W.Weglehner

„Schwurbrüder“
Hist. Roman
ca 540 S.

Synopsis

Hand in Hand mit der Wiederbesinnung auf das aristotelische Weltbild von der Gestalt der Erde als einer Kugel, verifiziert durch die Expeditionen waghalsiger Abenteurer, war ein neuer Kontinent entdeckt worden, unvorstellbar reich an Ressourcen aller Art.
Vor diesem Hintergrund gerät die Welt in Bewegung, gierig nicht nur nach Bereicherung, sondern auch danach, aus den starren Systemen politsch-ökonomisch-soziokultureller Zwänge einer vorangegangenen Zeit in dunkler Unmündigkeit, beherrrscht von einer rigiden Kirche, die seit Jahrhunderten am Christentum vorbei nicht anders als die weltlichen Herrscher die Menschen geistig unterdrückt und wirtschaftlich ausbeutet, auszubrechen. Die Folge sind Versuche auf allen Ebenen, die Fesseln, die einer voranschreitenden Entwicklung im Wege stehen, abzustreifen. Ziel ist die ökonomisch-politische Neugestaltung und -verteilung der Welt, alt wie neu. Damit geht einher das Denkmodell des Humanismus, dem noch immer eine mystische, teufels- und dämonengläubige Weltanschauung gegenübersteht.
Begünstigt werden diese Ideen der Neugestaltung durch das erstarkende ständische Bürgertum in den Städten mit seinen frühkapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsstrukturen, Aufblühen des Handels, Entstehung einer schwerreichen Finanzoligarchie, der weitgehenden Verschuldung des Adels und der Kirche, das Aufbegehren gegen die völlige Entrechtung der Bauern (Leibeigenschaft) mit Ansätzen zur Abschaffung des Feudalismus.
Hinzu kommen die inneren Widersprüche des bestehenden Feudalsystems in Form gegenseitiger Konkurrenz um Geld und Macht.
Das Ahnen um eine neue Zeit ist angebrochen.

Romanhandlung:
Martinus, Spalatinus und Moses sind mehr als Freunde, nämlich Schwurbrüder seit Jugendzeit. Die beiden ersten sind Christen und Studenten an der Erfurter Universität, der dritte, schon etwas ältere im Bunde, ist Handelsmann und Jude.
Die Pest geht um im Lande, eine rechte Zeit für die Ablaßprediger der römischen Kurie. Martinus, ein äußerlich lebensfroher Student der Rechte von brillantem Geist und charismatischer Ausstrahlung, tut sich hervor durch provokante Auftritte gegen den römischen Ungeist und begeistert damit nicht nur Kommilitonen. Nicht einmal die beiden Schwurbrüder wissen jedoch um die Abgründe seiner Seele, verursacht durch einen brutalen Vater und die unnahbare Mutter. Wüste Träume von Teufeln und Dämonen, eingebunden in nicht erklärbare sexuelle Phantastereien, verfolgen ihn, bisweilen bis an den Rand des Wahnsinns.
Die Kirche ist längst auf ihn aufmerksam geworden, denkt aber nicht daran, ihn zu verfolgen, sondern sich dessen Wirkung auf die Menschen zunutze zu machen. Eine Gelegenheit dazu ergibt sich, als Martinus während eines Duells ohne Verschulden einen Kommilitonen tötet. Man bringt den Verstörten in das Kloster der Augustiner nach Erfurt und dreht ihn systematisch um, bis er in die Gemeinschaft eintritt. Dort nimmt sich der Generalvikar der observanten Augustiner, Dr. Johannes von Staupitz, der von den Plänen nichts weiß, aus christlicher Nächstenliebe und tiefem Mitleid seiner an. Martinus faßt Vertrauen zu ihm, denn er sieht eine Art Vaterersatz in ihm. Um ihn abzulenken, schickt Staupitz ihn in einer inneren Angelegenheit des Ordens nach Rom. Dort muß er die Sünde in ihrer schlimmsten Form erleben und erleidet schwere Rückfälle.
Zur gleichen Zeit wohnt Giovanni di Medici einer Zusammenkunft bei Papst Julius II. bei, der von dem jungen, ehrgeizigen Mann sehr angetan ist.
Staupitz motiviert Martinus nach dessen Rückkehr zum Studium der Theologie mit dem Ziel der Erlangung des Doktorats an der Universität zu Wittenberg. Während der Arbeiten zur göttlichen Gnadenverheißung, mit der er dem zerrissenen Bruder insgeheim helfen will, beschäftigt sich Martinus intensiv mit den Schriften des Apostels Paulus und der Evangelisten und stößt dort auf heftige Angriffe gegen Juden. Das Verhältnis zu Schwurbruder Moses bekommt erste Risse. Gleichzeitig lernt Martinus die Werke des radikalen Denkers Wilhelm von Ockham, der dem Papst vor langer Zeit schon die Unfehlbarkeit absprach, und die des böhmischen Aufrührers Jan Hus kennen.
Als neue Freunde sind Professor Karlstadt und der Student Philipp Melanchthon zu der Runde gestoßen. Ein spezieller „Wittenberger Geist“ beginnt sich zu entwickeln, der rasch um sich greift. Spalatinus wird bald in eine Vertrauensstellung an den Hof des Kurfürsten Friedrich von Sachsen berufen.
Der junge Albrecht von Brandenburg, geheimer Auftraggeber der Umdrehung Luthers, kauft sich mit riesigen Summen, die er von den Fuggern aufnimmt, die Bistümer Magdeburg und Mainz, verpflichtet sich im Gegenzug, die Hälfte des Ablaßgeschäfts an die Kurie abzugeben und wird zum engsten Gefolgsmann des Papstes in Deutschland.
Giovanni di Medici wird als Leo X. neuer Papst. Er frönt hauptsächlich den Frauen und der Jagd und ernnennt seinen Freund Giacomo Caetano zum persönlichen Berater. In Deutschland tritt der Humanist Reuchlin gegen den Hetzer Pfefferkorn, einen zum Christentum konvertierten Juden an. Die Wittenberger, Martinus eingeschlossen, sind seine begeisterten Anhänger. So erscheint es allen umso unverständlicher, als Luther plötzlich öffentlich gegen die Juden predigt. Vor allem Moses, der noch immer keine richtige Erklärung weiß, trifft er damit sehr hart. Moses scheut jedoch die erste Auseinandersetzung um Paulus, den Spalter seines Volkes, nicht.
Martinus zieht sich zurück, entwickelt die 95 Thesen und schickt guten Glaubens eine Abschrift an Erzbischof Albrecht von Mainz. Der Aufruhr im Lande ist beträchtlich, als die Thesen öffentlich werden. Vor allem aber in Rom ist der Teufel los. Leo spricht das erste Mal von Ketzerei und allen möglichen damit verbundenen Konsequenzen. Er schickt Caetano nach Augsburg, um den Kontakt mit den Fuggern aufzufrischen. Jakob Fugger, der Reiche, ist über sein Agentennetz längst über alles informiert. Er fürchtet hauptsächlich die Konkurrenz der Medici und beginnt, nicht weniger perfide als die Römer, seine intriganten Fäden zu spinnen. Martinus wurde gleichzeitig nach Augsburg geladen, geht Caetano, in dem er auf einmal den Vater sieht, am Ende eines dreitägigen Verhörs in einer Aufwallung von verblüffendem Selbstbewußtsein an die Kehle und flieht dann doch voller Furcht auf einem „zufällig“ bereitstehenden Pferd. Zurück in Wittenberg mimt er gegenüber Thomas Müntzer, der seine Be-kannt-schaft sucht, den großen Helden.
Dann stirbt Kaiser Maximilian, und Jakob Fuggers Bestreben ist es, den jungen König Karl von Spanien, Maximilians Enkel, mit dem vorausschauenden Blick nach Übersee als dessen Nachfolger auf den Thron zu bringen. Leo dagegen läßt verkünden, einen Kaiser seiner Wahl einzusetzen, König Franz I. von Frankreich. Der Konflikt für viele Jahre ist damit vorprogrammiert.
Dem Fugger gelingt es, in einem Hazardspiel, bei dem er mehr als die Hälfte seines privaten Vermögens riskiert, Karl durch Bestechung der deutschen Fürsten als Kaiser durchzupeitschen. Als die näheren Umständen bekannt werden, nimmt der Unmut in deutschen Landen sprunghaft zu. Erste Volkserhebungen, vornehmlich unter Bauern, sind die unausbleibliche Folge. Maßgeblichen Anteil daran hat Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Karlstadt und Müntzer wollen sich der Sache des Volkes besonders annehmen. Martinus reagiert eifernd und selbstherrlich: Das sei seine Sache.
In Rom wird der Kirchenbann gegen ihn ausgesprochen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Wittenberger, die die Bannbulle in einer Art Volkfest umgehend verbrennen. Martinus versteigt sich dabei zu der Anmaßung, der Bann sei ein Schlag gegen den Heiligen Gottes, also ihn, gewesen.
Staupitz kommt als gebrochener Mann nach Wittenberg. Man habe ihn der Unzucht mit Männern bezichtigt. Gleichzeitig beschwört er Luther erfolglos, seine Haltung den Juden gegenüber zu bedenken.
Mittlerweile macht Kurfürst Friedrich sich seine Gedanken über eine nicht aufzuhaltende Ent-wicklung in der Zukunft. Mitmachen oder nicht? Jedenfalls dürfe Luther, der zum Reichstag vorgeladen ist, nicht widerrufen. Er sieht darin die Möglichkeit, sich vom Primat des Papismus schrittweise zu lösen.
Martinus, aufgemuntert von Vertretern der Zünfte und des Rittertums, widerruft nicht und wird, unter die Reichsacht gestellt, auf der Rückreise prompt und recht realitätsnah „überfallen“, verschleppt und findet sich auf der Wartburg wieder, wo Spalatin schon auf ihn wartet.
In Rom rechnet Leo mit seiner Familie ab, die ihm nur entgegenarbeitet. Die Vettern Giulio und Alessandro beschließen daraufhin seinen Tod.
Aufgrund der Intrige eines Erfurter Handelsherren wird Moses verhaftet und gefoltert. Erst durch Spalatins Eingreifen kommt er wieder frei.
Während Luthers Abwesenheit stürmen Karlstadt und Müntzer einige Kirchen und zerstören Altäre und Heiligenbilder. Wutenbrannt verläßt Martinus die schützende Wartburg und stellt sie zornbebend zur Rede. Sie gehen als Feinde auseinander, und die beiden schließen sich der aufflackernden Bauernerhebung an.
Eines Tage kommt eine Handvoll geflohener Nonnen aus dem Kloster Nimbschen nach Wittenberg und findet im Hause Cranachs, Luthers Freund, Unterschlupf. Martinus verliebt sich in Ave von Schönfeld, sieht in ihr jedoch in einem Rückfall eine römische Hure, so daß Katharina von Bora an ihre Stelle treten kann. Der Wahlspruch des überheblich gewordenen Reformators lautet inzwischen: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!
Jakob Fugger hat von einem jüdischen Finanzier namens Michel von Derenburg erfahren, der ihm ins fürstliche Leihgeschäft hineinzupfuschen scheint. Er beschließt, dessen Spuren nicht aus den Augen zu lassen, vor allem weil er gewisse Zusammenhänge vermutet, denn einige Fürsten beginnen bereits, sich auf die Seite des Ketzers zu schlagen.
Papst Leo X. stirbt elendiglich unter mysteriösen Umständen. Auch Nachfolger Hadrian überlebt ihn nicht lange. Der nächste Papst heißt Giulio di Medici, bzw. Clemens VII.
Mit der Abfackelung einer Marienkapelle bei Allstedt unter Führung Müntzers beginnt der Bauernkrieg. Luther wechselt aus seiner Urangst und dem Spiel einiger Fürsten heraus mit der Schrift „Wider die mörderischen Rotten der Bauern“ die Seiten. In furchtbaren Gemetzeln, die auf Bauernseite mehr als 100.000 Tote fordern, wird der Aufstand niedergeschlagen. Aus Luther, dem von oben Getretenen wird der nach unten Tretende. Die psycho-somatischen Anfechtungen (z.B Tinnitus, Magen- und Darmprobleme) treten wieder auf, und er sieht Teufel, Hexen und Hebräer als Verbündete des Papismus. Damit einhergehend verbittet er sich mittlerweile jegliche Kritik auch aus dem Freundeskreis, worunter insbesondere Melanchthon sehr leidet.
Jakob Fuggers Nachfolger Anton versteht es prächtig, das abgefeimte Spiel des verstorbenen Onkels fortzusetzen, nachdem der schwedische König die Kirchenreform in seinem Land eingeführt hat. Daneben verbeißt er sich in die Fersen des Derenburgers, bei welchem viele der lutherischen Fürsten tief in der Kreide stehen. Es gelingt ihm auch, sich über Spalatin an Luther heranzumachen und treibt sein Doppelspiel auf die Spitze. Luther, von den protestierenden Fürsten auf dem zweiten Reichstag von Speyer erneut aus der Reichsacht herausgepreßt, fühlt sich jetzt als alleiniger Sieger und läßt sich nur noch in einem kleinen Kreis von Speichelleckern hofieren. Mit der Confessio Augustana ist der Bruch mit den Römischen endgültig vollzogen.
Anton Fugger bewegt Graf Ulrich XI. von Regenstein-Blankenburg, einen der Hauptschuldner Michels von Derenburg, diesen wegen Betrugs anzuzeigen. Damit verbunden sind üble Verleumdungen, die man dem jüdischen Finanzier in die Schuhe schiebt, was zusammen mit dem Erscheinen des Halley´schen Kometen zu neuer Unruhe im Volk führt, so daß der Kurfürst schließlich die Ausweisung der Juden aus Sachsen verfügt.
Moses, der wie Karlstadt in die Schweiz will, sucht fieberhaft nach seinem alten Bekannten Michel von Derenburg, damit der ihm ein Stück Geleitschutz gewähre. Mehr zufällig kommt er nach Wittenberg, wo man ihn unter Luthers Augen beschimpft und mißhandelt. Ohne Hoffnung kehrt er nach Erfurt zurück und steht vor der ausgebrannten Ruine seines Hauses. In der Scheune findet er seine erschlagenen Angehörigen. Wie in Trance geht er hinauf zu der alten Eiche über der Stadt, dem Lieblingsort der Schwurbrüder in der Jugendzeit und erhängt sich.

Leseprobe

Sommer, endlich ein gottgnädiger Sommer, der uns Brot und Auskommen bescheren wird! jubelten die Menschen seit Wochen im Freudentaumel, vor allem die Bauern. Heiß war er, dieser Sommer, der Sommer überhaupt, an dessen Wiederkunft keiner mehr hatte glauben wollen, ließ das eine oder andere gesunde Gewitter sich austoben, ohne Wasserfälle auf das Land zu schütten, um es wieder zu ersäufen, die Feldfrüchte gut reifen, und die Gemüter der Herren, Städter und Ländler erhellten sich mit jedem neuen Tag des himmlischen Segens.
Es sah aus, als habe neues, beinahe paradiesisches Leben die Erde erfüllt.
Vor allem die Herren Studiosi im Lande, in Magdeburg und Wittenberg insbesondere, denen weder die Bestellung der Felder, noch die Erzeugung von Gebrauchsgütern, noch der Handel oblag, feierten über Gebühr, das heißt, sie soffen den Wein wie Kühe das Wasser oder nach dem bescheidenen Maß, das ihre Geldkätzchen dafür hergaben und führten galant die Dirnen umher, um sich nach einer Weile mit ihnen zu verstecken und ihre Kätzchen zu streicheln und zu bürsten nach deren maßgeblichen Forderungen.
Auch Erfurt machte da kaum eine Ausnahme. Die einen fielen, statt zu studieren, in die städtischen Schenken ein, andere, Vorsichtigere, zogen es vor, die Dörfer der Umgebung zu beehren und unsicher zu machen, weil sie dort keiner kannte.
Auch Martinus hatte begonnen, solchen Lüsten zu frönen. Lediglich von den Lotterweibern halte er sich fern, so wußte es Spalatin von den Kommilitonen, weil der Freund sich rar machte.
Es war hin und wieder auch zu hitzigen Händeln gekommen, entfesselter Studenten untereinander, aber auch gegen zwielichtige Gestalten in den Kaschemmen, die hie und da bereits mit den Degen ausgefochten worden waren. Daraufhin habe auch Luther sich gegürtet zu seinen Ausflügen.
Viel Zeit der Besorgnis darüber blieb den Schwurbrüdern nicht.
Es geschah am zweiten Tag des Monats Juli im Jahre des Herrn 1505.
Martinus saß, dumpf vor einem Krug Weines brütend, an einem Tisch vor dem Dorfgasthaus zu Stotternheim. Eine uralte Linde spendete dort angenehmen Schatten, denn bereits zur Mittagszeit schob drückende, feuchtheiße Luft Wolkenbänke im Westen zu riesigen, weißquellenden Gebirgen übereinander.
Das Korn stand kurz vor der Reife, und die Bauern hatten sich wieder darauf besonnen, die Geißel des Hagels zu fürchten, der mit einem Schlag alles zunichte machen konnte. Mit Bangen blickten sie zum Himmel und beteten an den Wegekreuzen um Schonung der Fluren.
So gingen sie vorüber an dem nichtsnutzigen Zecher, dem sich bald einige andere Studiosi beigesellt hatten und mißbilligten schweigend deren Müßiggang.
Die Wolken schienen stehenzubleiben und, je weiter die Stunde fortschritt, desto dichter zusammengepreßt zu werden, so wölbten sie sich auf. Kein Lüftchen ging mehr durch die Baumkronen, und die Vögel ließen von ihrem übermütigen Gezwitscher ab.
Außer ihren am Körper klebenden Kleidern bemerkten die Zecher von alledem nichts. Würfel klapperten, Geldstücke rollten über den Tisch, Verwünschungen, lästerliche Flüche und kurzes, wohlwollendes Gegrunze über einen scheinbaren, schnöden Gewinn waren die einzige Unterhaltung.
Martinus beteiligte sich nicht am Spiele, das er vom Teufel zu nennen pflegte und nahm daher auch keine Notiz davon.
Da galoppierte ein feuriges Roß samt Reiter auf den Platz. Hinter ihm saß eine Frau, der man ihr Gewerbe von weitem ansah. Sie schäkerten und turtelten und ließen sich bei der Runde nieder.
Martinus hatte kurz aufgesehen und war dann weiter seinen Gedanken nachgehangen.
Bei dem Reiter schien es sich um einen gutbetuchten Junker aus studentischen Kreisen zu handeln. Der fixierte den Magister in grübelnder Überlegung. Endlich sprach er ihn an.

He, du, dich kenne ich doch. Bist du nicht der Magister Luther von der juristischen Fakultät? Der sich vor einiger Zeit mit einem Ablaßprediger anlegte?

Unwirsch wendete Martinus den Blick dem Störenfried seiner Gedanken zu.

Der bin ich. Wer aber bist du? Halt, ich weiß es: Du bist der Bruder Springbock von der Philosophenschule der Strolche und Tagediebe, wenn ich nicht irre. Laß mir meine heilige Ruhe!

Die Würfler waren einen Moment aufmerksam geworden und lachten dröhnend. Der Junker bezwang sich, obwohl seine Hand zum Degen hin gezuckt hatte. Seine Gespielin fuhr ihm durch die wirren Haupthaare. Sie focht die Beleidigung des anderen offenkundig nicht an. Der Gehöhnte aber schüttelte ihre besänftigende Liebkosung ab.

Deine heilige Ruhe? Bist du heilig geworden, Luther? So heilig wie der Mönch etwa, den du schmähtest? Ich bin nicht heilig, sieh nur gut her!

Er fuhr der Dirne mit der Hand unter den Rock, daß sie den Kopf in den Nacken warf und gurrte.

Möchtest du es auch probieren? Hier, bediene dich, sie ist eine gute Lehrerin. Man sagt nämlich in der Stadt, du hättest es bitter nötig. Die Papisten tun das auch von Herzen gerne und mit Lust. Deswegen verstehe ich mich auch so gut mit ihnen. Ich bin einer der ihren und lasse nichts über sie kommen. Gefällt dir das, Luther? Möchtest du mit mir nach Rom reisen? Ich habe dort viele Freunde unter den geistlichen Herren, die so leben wie ich, und die mich schätzen. Na komm, die Kleine hier wartet auf deine Unschuld…

Die Hure lachte und schob den Rock weit über die Knie hinauf. Martinus stand auf und kramte einige Kreuzer aus seinem Beutel, um den Wein zu bezahlen.

Nicht doch, Luther! Du mußt nicht bezahlen dafür, ich tat das schon im voraus, nicht wahr, mein Täubchen?

Das Täubchen stand auf, tänzelte auf den Magister zu und wollte nach ihm greifen. Ein flammender Blick aus blutunterlaufenen Augen traf sie, bevor er sie zur Seite schleuderte, daß sie zu Boden stürzte.
Da sprang der Junker auf und riß den Degen aus dem Gürtel. Der Magister stand ihm nicht nach, und schon prallten die Klingen gegeneinander. Sand und Staub wirbelten auf unter den Tritten der Kampfhähne.
Noch lachte der Junker, der glaubte, ein leichtes Spiel zu haben, denn er hatte das Fechten gelernt. Martinus dagegen führte seine Waffe nur gegen etwaige Überfälle mit sich. Doch mit jedem Hieb, den er parieren konnte, wurde er sicherer, während der Junker sah, daß er den Kontrahenten unterschätzt hatte. Zudem wurden des Magisters Gegenstreiche kräftiger, denn er war vom Wein erhitzt und keineswegs betäubt, wie der andere angenommen hatte.
Gebannt folgten die Zecher dem Hauen und Stechen, das an Heftigkeit zunahm. Die Kämpfenden gaben mit jedem Streich kaum unterdrückte Urlaute von sich und ächzten, der Schweiß floß in Strömen an ihren Leibern hinab und troff ihnen von hitziger Stirne in den aufgewühlten Sand. Das Roß des Junkers schnaubte, scharrte und wieherte, als spürte es, was da vor sich ging. Die Dirne hielt die Fäuste vor den Mund und preßte einen Schrei nach dem anderen hervor.
Der Junker, rasend geworden, legte es darauf an, den Gegner niederzustechen, das verstand jetzt ein jeder. Seine Hiebe und Stiche zielten in gerader Linie auf den Leib des Magisters, und nichts war ihnen mehr gemein mit edlem, mannhaftem Kräftemessen.
Auch Martinus hatte die Gefahr rechtzeitig erkannt, sein Blut war in Wallung geraten, und er fühlte, daß es ein Kampf auf Leben und Tod geworden war. Von starker Natur, wußte er, daß sein Vorteil nur in der Dauer des Gefechts liegen würde. So kämpfte er weiter verbissen, aber nicht wie der andere in Attacken, die Kraft kosteten. Und er bemerkte wohl, daß dessen Angriffe bald schwächer, jedoch nicht weniger kunstvoll geführt wurden.
Wieder gelang es ihm, einen kerzengerade geführten Stich abzuwehren, wobei seine Klinge am Stahl des Junkers entlangschrammte und diesem direkt in den Hals fuhr. Ein Schwall von Blut schoß daraus hervor, bevor der andere wankte und vornüber in den Staub fiel.
Martinus begriff einen Augenbick lang nichts. Erst als die Zecher voller Entsetzen davonstoben, wußte er, was geschehen war. Die Dirne beugte sich über den Sterbenden und kreischte wie im Irrsinn.
Da warf er den Degen hin und rannte weg vom Platz, als sei der Teufel, der ihn so oft heimsuchte und plötzlich Fleisch und Blut geworden, hinter ihm her. Er hetzte, stürzte, raffte sich auf, sah, daß das Wolkengebirge sich schwerfällig in Bewegung setzte und ihm folgte und rannte weiter, ohne Wissen, wohin, weg von den Wegen, über Feld und Flur, in einen Wald, stolperte über Wurzeln und auf dem Boden liegendes Geäst, riß sich Gesicht und Hände an Brombeersträuchern wund, bis auf einmal eine hundertpfündige Kanone nach ihm schoß und ihn zu Boden schmetterte.
Eine Gesichtshälfte in den weichen Waldboden gedrückt, zog das Leben kurzbebildert vor seinen in gleißend hellen Lichtern erblindenden Augen an ihm vorüber.

Hilf, heilige Anna, hilf!

Dann dunkelte es vollends um ihn, und er rührte sich nicht mehr.
Jetzt traten vier Gestalten, in Kutten gehüllt, aus dem Unterholz heraus, betrachteten und untersuchten den apathisch Daliegenden oberflächlich, nahmen ihn dann wortlos auf und schleppten ihn im prasselnden Regen durch den Wald, während Donnerschläge und Blitze allmählich schwächer wurden und sich schließlich ganz vergrollten.
Auf einer Lichtung, nicht weit entfernt, stand ein Ochsenkarren, auf den sie den Besinnunglosen legten. Der starrte mit weitgeöffneten Augen in die Baumwipfel, die nun langsam über ihn hinwegzogen, konnte außer dieser unbestimmten Bewegung jedoch nichts begreifen.